Die Blutnacht: Roman (German Edition)
ja auch schon den ganzen Tag geübt, wie man Verwundete tötete. Einige Kohlenpfannen brannten, und in der gemauerten Feuerstelle war noch Glut. Lange Tische, ein Fass Wein, verschüttete Speisen: ein unterbrochenes Festmahl. Von der Miliz selbst war nichts zu sehen, nur das Gemetzel, das sie hinterlassen hatte.
Tannhäuser hatte seine Gelegenheit verpasst.
Seit er die Stadt betreten hatte, war er keine Handbreit von seinem Ziel abgewichen. Er wollte mit Carla wiedervereint werden. Er wollte dafür sorgen, dass sie in Sicherheit war. Er hatte es nicht eilig gehabt, Le Tellier zu töten, und wenn das der Preis für Carlas Sicherheit war, hätte er gern auf das Vergnügen verzichtet. Zumindest so lange, bis er allein nach Paris zurückkehren konnte. Aber gerade eben hatte sich Le Tellier von einem lästigen Hund, der nach seinen Fersen schnappte, in eine Zitadelle verwandelt, die ihm im Weg stand. Jetzt würde er diese Festung mit Waffengewalt stürmen müssen. Er fragte sich, ob ihn das Rätsel, zu dem ihm Frogier einen Schlüssel geliefert hatte, vielleicht bei dem Angriff leiten konnte.
Marcel Le Tellier wollte, dass Tannhäuser litt.
Er wollte die Menschen verletzen, die Tannhäuser liebte, weil das für ihn die schlimmste Strafe wäre.
Im Augenblick war es gleichgültig, warum das so war. Also verschwendete Tannhäuser keine Zeit auf Spekulationen. Wenn Marcel es nicht schon wusste, so wollte er doch bestimmt herausfinden, ob Tannhäuser noch lebte. Seine Leute würden den kopflosen Harfenspieler finden. Die Kirche voller toter Mordgesellen.
Und dann würde sich Marcel Le Tellier fürchten.
Le Tellier hatte erwartet, seine Rache über eine Entfernung von fünfhundert Meilen hinweg zu genießen. Er hatte damit gerechnet, dass Tannhäuser in einigen Wochen die Nachricht von Carlas Tod erhalten würde. Er brauchte ihn nicht einmal zu sehen. Er musste nicht sehen, wie Tannhäuser litt. Er musste es einfach nur wissen. Marcel hätte es gereicht, sicher zu sein, dass Tannhäuser bis zu seinem Lebensende trauern würde, gequält von der Erkenntnis, dass seine Frau allein, unter großen Schmerzen, in Angst und Schrecken und ohne ihn gestorben war.
Das Rätsel hatte eine neue Wendung genommen.
Tannhäuser bezweifelte nicht, dass es den Plan wirklich gab, das Symbol umzubringen und einen Krieg anzuzetteln, und dass er ein Teil von Le Telliers Absichten war. Der Mann war ein fanatischer Katholik. Die politische Logik, die La Fosse nur langsam verstanden und die Paul sofort begriffen hatte, war stimmig. Zwei Fliegen mit einer Klappe; aber die zweite Fliege war nicht das, was Paul sich vorgestellt hatte. Die zweite Fliege war Tannhäusers Herz. Das Politische und das Persönliche. Er hatte mit seinem Instinkt am Morgen gleichzeitig recht und unrecht gehabt. Der Plan, Carla umzubringen, war eine persönliche Sache gewesen; aber sie richtete sich nicht gegen Orlandu, sondern gegen Tannhäuser.
Marcel wollte seine Rache eiskalt genießen. Tannhäuser liebte seine Rache kochend heiß, aber deswegen verstand er nur umso besser und war beeindruckt. Diese Geduld. Diese Vorausplanung. Diese Disziplin. Eine Zecke lebt jahrelang von einem winzigen Tropfen Blut, hängt an einem Grashalm und wartet darauf, dass ein Bär oder Hund vorbeikommt. Dann schlägt sie zu, saugt sich voll, bläht sich auf, um ein Leben lang davon zu zehren. So hatte Le Tellier von einemTropfen Hass gezehrt; und so wollte er sich nun mit Tannhäusers Schmerz vollsaugen.
Er war also ein Mann, der auf Pläne baute, auf die Vernunft, auf Schlauheit, nicht auf Kühnheit oder Leidenschaft. Er war Politiker, kein Krieger. Kein Barbar, sondern ein Polizeichef.
Marcel Le Tellier lebte nicht nur vom Hass. Jeder Herrscher liebt auch sein Reich abgöttisch. In seinen persönlichen und politischen Intrigen hatte er alle Vorkehrungen getroffen, um seine Position zu schützen. So sehr er auch von seinem Hass lebte, die Macht brauchte er noch mehr. Am allermeisten wollte er am Leben bleiben. Ein Mann, der die Macht – oder den Hass – wirklich liebt, würde sein Leben für beides riskieren. Le Tellier hatte sich alle Mühe gegeben, das nicht zu tun.
Tannhäuser schaute auf die Leichen derer, die für die Sache Le Telliers gestorben waren. Er dachte an die vielen anderen, die überall in der Stadt verwesten.
Marcel Le Tellier war ein Feigling.
Wenn er herausfand, dass Tannhäuser lebte und frei war, würde er Carla als Pfand behalten, genau wie Orlandu. Er würde
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