Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
Vom Netzwerk:
Tannhäuser. »Und was die Türen angeht, so habe ich gedacht, das hier wäre eine Räuberhöhle. Hast du nicht gelernt, wie man ein Schloss aufknackt?«
    »Ich kann dir jedes Schloss in ganz Paris knacken, auch blind! Andri! Was ist aber, wenn die Tür auch noch verriegelt ist?«
    »Die Stadt versinkt im Chaos«, sagte Tannhäuser. »Marcel ist der Polizeichef. Da gibt es in seinem Haus ein ständiges Kommen und Gehen. Die Wachen im Haus werden die Tür nicht jedes Mal verriegeln, und was ist ein Wachmann anderes als ein Mann, der sich darauf freut, sich endlich schlafen zu legen? Du sagst, dass niemand je auch nur davon geträumt hat, das Haus zu überfallen. Er erwartet also keine mongolischen Horden. Höchstens mich.«
    »Ich denke, nicht einmal das. Es sei denn, er weiß, wie ich jetzt, dass du verrückt bist.«
    »Marcel ist hoch aufgestiegen«, sagte Tannhäuser, »aber es sind noch viele Leute über ihm, und er hat guten Grund, ihren Unmut zu fürchten. Er hat heute viele verraten. Er hat sein Amt besudelt. Er hat gegen den Willen der Krone gehandelt. Er hat die Ehre und das Blut der Pilger missbraucht. Diese Vergehen hat er geheim gehalten und muss sie weiter geheim halten, wenn er nicht den Kopf verlieren will. Er wird den Gouverneur nicht bitten, die Truppen ausrücken zu lassen, und noch viel weniger den König, die Schweizer Garde loszuschicken. Und alles andere wird nicht reichen.«
    »Die Pilger …«
    »Er kann die Pilger nicht dazu auffordern, sein Stadthaus zu schützen. Vor wem auch? Er wagt es nicht einmal, seine eigene Polizei in großer Zahl kommen zu lassen.«
    »Marcel ist schlau«, sagte Grymonde. »Du kennst ihn nicht.«
    »Ich kenne viele wie ihn, und sie sind alle gleich. Er hat die Hand nach der Macht ausgestreckt, und nun glaubt er, dass sie ihm dient. Aber die Macht hat keine Herren, nur Sklaven. Diese Macht ist der Käfig, in dem ich ihn schlachten werde.«
    Grymonde schürzte die Lippen, sagte aber nichts mehr.
    »Wo ist sein Amtszimmer?«, fragte Tannhäuser.
    »Im ersten Stock des Südflügels, mit Blick auf den Fluss.«
    »Gibt es eine gesonderte Treppe?«
    »Nein. Nur einen Korridor von der Haupttreppe aus.«
    Grymonde schickte Andri seine Werkzeugtasche holen.
    »Was ist, wenn er bereit ist, Carla zu töten, sobald jemand ins Haus eindringt?«, fragte Grymonde.
    Zu seiner Überraschung verspürte Tannhäuser kalte Wut in sich aufsteigen.
    Er lehnte sich zu Grymondes versengtem Gesicht hin.
    »Ist Marcel nicht ein Mann, der Leuten wie dir Geld dafür gibt, dass sie das anderswo erledigen?«
    Grymonde zuckte zusammen. »Du spielst mit ihrem Leben.«
    »Maße dir keine Sorgen an, die dir nicht zustehen, blinder Bogenschütze. Sonst lasse ich dich hier zurück, dass du in der Finsternis deiner Mutter nachweinen kannst.«
    Grymonde ballte die Fäuste. Seine augenlose Fratze war grässlich.
    »Sie ist deine Frau.« Er nickte. Seine Fäuste entspannten sich. »Ich wollte nicht respektlos sein.«
    Tannhäuser nahm einen Schluck Wein und schaute zu ihm.
    Grymondes versengtes, gesalbtes und verzerrtes Gesicht zuckte. Ihn schienen viele Gedanken und Gefühle zu beschäftigen. Tannhäuser erinnerte sich an die Schandtaten des Mannes. Die Verbrechen aller Männer, die er heute getötet hatte, würden zusammengenommen kaum an die von Grymonde heranreichen. Seltsamerweise hatte Tannhäuser trotzdem Mitleid mit ihm. Und nicht nur wegen seiner schrecklichen Leiden. Sein eigener Lebenspfad war zwar dunkel gewesen, aber Grymondes sicherlich viel dunkler. Sie hatten eines gemeinsam, das wurde Tannhäuser klar: Sie wussten beide, dass es nicht so hätte sein müssen. Und dass es nur so gekommen war, weil sie auf ihrem Weg bestimmte Entscheidungen getroffen hatten. Grymonde hatte inzwischen eine Schlussfolgerung erreicht und verriet davon nur, was er für angemessen hielt. Er grinste.
    »Du hättest meine Mutter Alice gemocht. Sie hat sich für dich eingesetzt.«
    »Ich fühle mich geehrt.«
    »Alice liebte Carla.« Grymonde schüttelte den Kopf. »Und sie hat kaum je ihre Gefühle gezeigt, außer bei Säuglingen. Sie wusste, sie hatte gelernt, dass man einen Schatz erschöpft, wenn man ihn zu freigebig verschenkt. Carlas Ankunft war das Zeichen, auf das sie gewartet hatte. Das Zeichen, dass sie in Frieden gehen konnte, weil sie wusste, dass es mindestens eine andere gab, die die Flamme weitertragen würde. Sie hatte recht, wie immer. Es gab keinen Grund zur Eile. Carla liebte sie auch.«
    Tannhäuser

Weitere Kostenlose Bücher