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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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intensiver. Dann war außer dem Töten nichts in ihm. Gedanken, das schon, aber alle auf den einen Zweck ausgerichtet. Keine Ängste, keine Zweifel, kein Mitleid. Nur Bewegung – Entscheidungen – Bewegungen, die dahin flossen, wo sie gerade gebraucht wurden, so wie eine Schwalbe ihre Flügel benutzt. Es war so wunderschön. Wie konnte er den Kampf nicht lieben? Wie konnte eine Schwalbe ihren Flug nicht lieben?
    Er hatte gesagt, dass siebzehn Männer keine Chance gegen ihn gehabt hatten, und nun begriff sie, warum. Es lag nicht nur daran,dass er mehr über das Kämpfen wusste. Sie hatten zu viel mitgebracht, was sie nicht brauchten, zu viele Leute, zu viele Ängste. Sie meinten, es würde reichen, als Gruppe zu erscheinen. Sie hatten überlegt, was geschehen sollte, nicht, was zu tun war. Keiner von ihnen wusste, wie man eine Entscheidung traf. Sie wussten nur, wie man sich umbringen lässt.
    Sie schlug die Augen auf und sah die Mäuse, die einander auf dem zweiten Bett gegenüber saßen und ein Fingerspiel machten. Pascale lag auf der Seite und schaute ihnen zu. Sie wartete darauf, dass die Schwere aus ihren Gliedmaßen weichen würde. Sie hatte die Zwillinge schon früher auf der Straße gesehen und nie viele Gedanken an sie verschwendet, genauso wenig wie an Tausende andere Kinder, die ein jämmerliches Leben fristeten. Sie erinnerte sich daran, was Tannhäuser über den Mut der Mädchen und ihre schrecklichen Erlebnisse gesagt hatte, und sie schämte sich. Sie fragte sich, wie ein Mann, der ein derart blutiges Leben führte, in zwei so kleinen und verlorenen Wesen so viel sehen konnte.
    »Wie heißt ihr?«, fragte sie.
    Die beiden unterbrachen ihr Spiel, als hätte man sie bei etwas Schlimmem ertappt. Sie sagten nichts.
    »Könnt ihr reden?«
    Sie schauten einander an und erreichten eine gemeinsame Entscheidung.
    »Was sollen wir denn sagen?«
    »Wir sagen alles, was du willst.«
    »Ihr könntet mir eure Namen nennen«, erwiderte Pascale.
    »Unsere wirklichen Namen oder unsere Namen bei der Arbeit?«
    Pascale erinnerte sich. Sie waren dazu erzogen, anderen zu Gefallen zu sein. Sie mochte es nicht, wenn jemand ihr zu Gefallen sein wollte. Aber sie erwartete nicht, dass sie die Mädchen noch ändern könnte.
    »Eure wirklichen Namen. Ich heiße Pascale, meine Schwester Flore.«
    »Das wissen wir«, sagte die eine. »Ich bin Marie.«
    »Und ich Agnès. Tybaut hat gesagt, das wären keine sehr hübschen Namen.«
    »Da hat er sich geirrt«, sagte Pascale.
    Sie erinnerte sich daran, was Tannhäuser über Clementine gesagt hatte. In dem Augenblick hatte sie gewusst, dass es richtig war, ihn zu lieben.
    »Ich würde eure Namen sogar die schönsten überhaupt nennen.«
    Die Mäuse schauten einander an.
    »Jetzt könnt ihr mich was fragen«, sagte Pascale.
    »Kommt der komische Mann zurück?«
    »Welcher komische Mann?«
    Pascale erinnerte sich an die gefüllten Eier im Wirtshaus.
    »Tannhäuser? Mattias? Ja, der kommt zurück.«
    Pascale versuchte, ihrer Stimme mehr Sicherheit zu geben, als sie wirklich verspürte. Und doch, wie konnte er nicht wiederkommen?
    »Er kommt immer zurück.«
    Sie räkelte sich und rollte sich auf den Rücken. Flore war nicht da. Sie war beunruhigt.
    »Wo ist Flore?«
    »Sie arbeitet im anderen Zimmer, mit Juste.«
    Pascale sprang auf und öffnete die Tür. Der Strohsack, den man für Juste hingelegt hatte, war leer. Pascale trat zu der gegenüberliegenden Tür, legte die Hand an die Klinke und hielt inne. Sie atmete heftig. Flore war ein Jahr älter als sie, und doch hatte Pascale immer die Führung übernommen. Normalerweise hätte sie nicht gezögert, aber heute war nichts normal. Sie fühlte sich hintergangen. Arbeiten? Flore? Sie hatten mit Jungen herumgespielt, vielmehr hatte Pascale für sie beide geschäkert, aber an mehr hatten beide nie gedacht. Pascale drückte die Klinke und zögerte schon wieder.
    Sie hatte die Verantwortung. Tannhäuser hatte sie ihr übergeben. Er hatte sie zur Seite genommen, nicht Flore, und obwohl er auch mit Juste gesprochen hatte, wusste sie, dass er ihr vertraute, nicht dem Jungen. Juste war zu weichherzig, um die Verantwortung zu übernehmen. Aber nicht zu weichherzig, um mit ihrer Schwester im Schlafzimmer zu sein, wo er doch im Flur hätte Wache halten sollen. Entgegen dem Impuls, ins Zimmer zu stürzen, klopfte sie an. Und meinte, gleichzeitig unten ein anderes Klopfen an der Tür zu hören.
    »Flore, ich bin es. Ich komme rein.«
    Sie machte die Tür

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