Die Blutnacht: Roman (German Edition)
lang gegeben, hatte ihm den bereits im Schoß zugeflüstert, hatte ihm den mit ihrem Blut eingeflößt, ehe er auf die Welt kam. Ja, er hatte vor dem Geburtszimmer gelauscht. Er hatte die Geheimnisse mit angehört, die diese vier Schwestern miteinander teilten, obwohl er sie nicht in Worte fassen konnte.
Wie wunderbar! Wie seltsam!
In seiner Vision lächelte Alice.
Andere mächtige Karten waren im Spiel.
Das Gericht. Das Feuer. Der Tod.
Die Bilder ragten hundert Fuß hoch auf und waren vor seinem augenlosen Blick in hundert Farben bemalt. Die silbernen Posaunen des Jüngsten Gerichts. Der brennende, blutende Turm. Der bleiche und trunkene Reiter auf seinem schwarzen und trunkenen Pferd.
Er drückte die Schulter des Jungen. Der Junge schrie auf und wand sich aus seinem Griff.
Grymonde blieb stehen und lehnte sich auf seinen Speer. Er schaute zu den Bildern auf.
Carla hatte die Anima Mundi gewählt.
Und die Seele der Welt hatte ihre Hand zu den unbarmherzigen anderen Karten geführt.
Das waren die Karten, die jetzt im Spiel waren.
Der Tod sprengte durch die Stadt.
Er sprengte auf das Feuer zu.
Und jenseits des Feuers das Letzte Gericht.
Grymonde flog hinauf, von den Krallen der Ekstase hochgerissen.
Eine Welle der Furcht schwappte über ihn herein.
Vielleicht würde er nicht sterben.
Vielleicht würde der Tod ihn durch das Feuer hindurch nicht erreichen.
War das sein Urteil? Und seine Strafe?
Am Leben zu bleiben? So weiterzuleben?
»Wo bist du, mein Junge?«
Er spürte federleichte Berührungen am Kopf und hörte die Stimmen des Cherubim. Jemand ergriff seine Hand und führte sie auf einenKnochen, und er drückte fest zu. Er hörte einen Schrei, aber der Knochen wich nicht aus. Guter Knochen. Tapferer Knochen. Der seltsame und wunderbare Junge. Grymonde lockerte seinen Griff. Seine Angst verging. Seine Füße waren wieder sicherer.
Die Krallen trugen ihn höher hinauf.
Auf den Bildern sah Grymonde die vielen Angesichter Gottes.
Die Seele der Welt. Das Gericht. Das Feuer. Den Tod.
Carla. La Rossa. Die Nachtigall. Alice. Alice?
Gott war nicht dort. Gott war hier.
Und Gott war nicht Gott.
Hier gab es keine Götter. Nur unsere Mutter, die Erde. Und uns.
Rasender Schmerz löschte diese Offenbarung in einer weißen Flamme aus. Versengte alles. Die Vision, die Bilder, das Wissen. Fort. Er starrte nur auf Schwärze, weniger als das sogar. Der Schmerz verebbte.
»Ich sagte, pass auf«, mahnte Tannser, »bleib hellwach.«
Grymonde hatte keine Gewalt gespürt, begriff er jetzt, außer den Schlägen von La Rossas Händen und Füßen. Tannser hatte wohl seine Verbrennungen berührt. Die Eichenhand hatte seinen Arm gepackt.
»Wir sind bald da. Bleib standfest. Ich brauche den mächtigen Infanten.«
»Der Infant ist standfest. Führe ihn in die Schlacht.«
»Kühn, aber listig. Zieh die Visionen draußen denen im Inneren vor.«
Grymonde versuchte zu zwinkern. Eine weiße Flamme richtete ihn auf. Er nickte.
»Estelle, Grégoire«, sagte Tannser, »ihr habt gute Arbeit geleistet.«
»Amparo auch«, sagte Estelle.
»Ja, Amparo auch.«
Die weniger dunkle Schwärze kehrte zurück, und Grymonde klammerte sich daran. Goldene Lichter blitzten wie Sternschnuppen hindurch, und er ließ sie fallen. Er stampfte weiter. Standfest. Kühn, aber listig. Tannser? Tannser. Ja, La Rossa hatte recht. Der Klang des Namens traf einen bis ins Mark, genau wie der Mann.
Er liebte diesen Mann.
Grymonde lehnte sich auf Grégoires Schulter. Grégoire blieb stehen und er auch, ohne Zusammenprall. Visionen im Inneren. Visionen außen. Ja. Draußen spürte Grymonde, dass Tannser die Toten mit der leidenschaftslosen Gelassenheit eines Mannes aufstapelte, der schon früher unermesslich viele Leichen gestapelt hatte. Tannser war kaltblütiger, als Grymonde es je gehört oder erlebt hatte; und doch trieb ihn eine unendliche Leidenschaft. Und dieses Wissen war keine Vision im Inneren. Tannser suchte Carla. Er hatte das Kind gefunden, das sie beide gemacht hatten. Er hatte die Nachtigall an einem Ort gefunden, der so angelegt war, dass man ihn nicht finden konnte, den kein Mensch je zu suchen gewagt hatte. Er würde alles aufs Spiel setzen, um diese drei zusammenzubringen, lebendig oder tot. Und das zumindest war nicht seltsam.
Überhaupt nicht seltsam. Es war richtig und wahr.
Es war wunderbar.
Ja.
Er liebte diesen Mann.
Er liebte sie alle.
Genug von den Wundern im Inneren.
Grymonde hob die Hand und steckte einen Finger
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