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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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in das Loch, wo einmal sein linkes Auge gewesen war. Der Finger drang in seinen Schädel ein wie ein heißes Eisen. Er unterdrückte den Schrei, den er ausstoßen wollte, und erstickte ihn zu einem langgezogenen Stöhnen. Er lebte. Er war wieder draußen. Er wurde gebraucht. Sie zogen weiter. Er würde Carla dienen. Er würde den Schwestern auf seiner Schulter dienen. Er hatte noch nie im Leben einem Menschen gedient, und er hätte sich früher eher die Kehle durchgeschnitten, als das zu tun. Aber er würde Tannser dienen. Nein. Ein Mann unter Männern hatte das Recht, bei seinem wahren Namen gerufen zu werden.
    Grymonde, der mächtige Infant, würde Mattias Tannhäuser dienen.
    Doch warum brauchte Tannhäuser seine Dienste? Grymonde war ihm so lästig wie eine Handvoll Steine im Schuh. La Rossa hätte die Nachtigall allein fünfmal so schnell tragen können. Nein. Jetzt zog er sich wieder in sein Inneres zurück. Er bohrte den Finger erneut in das Loch, wo kein Auge mehr war. Das Innere seinesSchädels wurde von einer blauen Flamme verzehrt. Er stöhnte. Er schwankte. Er stapfte. Mit diesem Stöhnen und Stapfen diente er, denn er wusste nicht, was er sonst zu bieten hätte.
    Aus Jahrzehnten von Mist aus den Gedärmen des Viehs, das seinen Untergang ahnte, war ein Gestank destilliert, der sogar durch die flüssige Holzkohle drang, die aus seiner Nase triefte.
    »He! Ihr da! Macht, dass ihr wegkommt? Sonst hole ich die Wachen!«
    Grymonde wandte den Kopf der Stimme zu. Die Stimme versagte vor Entsetzen.
    »Großer Gott!«
    Der Mann gab keinen Laut mehr von sich, nur seine Leiche fiel in den Dreck.
    Tannhäuser hatte ihn mit Stahl anstatt Kupfermünzen bezahlt.
    »Warte hier, mein Infant, und sei still.«
    Grymonde wartete. Er verspürte unendliche Geduld. Alice hatte gesagt, es gäbe keine Eile, und sie hatte recht gehabt. Sie hatte ihr Ende kommen sehen und die letzten Augenblicke auf Liebe anstatt auf Furcht verwendet. Diese Frau hatte schon immer ein Gespür für ein gutes Geschäft gehabt. Konnte er es ihr nachtun? Er war verblüfft, dass er so viel Liebe zu verschenken hatte. Wo war die all die Jahre gewesen? In welchem verlorenen Gewölbe hatte er sie versteckt? Traurigkeit stieg in ihm auf. Er wollte wieder weinen und war froh, dass er es nicht konnte. Pass auf. Bleibe hellwach. Er hatte auch Wut zu verschenken. Die hatte er immer schon leicht finden können. Aber er hatte nicht mehr Zeit genug für beide. Dieser Handel war nicht so leicht abzuschließen. Er spürte Tannhäusers Hand.
    »Garnier hat gerade mit vier seiner Männer das Hôtel verlassen. Ein Sergent bewacht die Tür.«
    »Was jetzt?«
    »Ich hebe Estelle von deiner Schulter. Estelle, tritt ihm nicht ins Gesicht.«
    Die Federgewichte flogen fort. Grymonde vermisste sie. Er war allein. Er spürte eine Welle des Selbstmitleids. Er hob den Finger zu den Augenhöhlen, um sich wieder aufzurichten, aber Tannhäuser packte sein Handgelenk. Grymonde war getröstet. TannhäusersStimme war ruhig und stark, als hoffte er, sich so diesem Kind verständlich zu machen.
    »Grymonde, ich gebe dir jetzt die Säule der Armbrust in die linke Hand. Nur in die linke Hand. Du trägst das Gewicht, aber nur leicht, so dass sich die Armbrust noch drehen kann und dass die Stärke deiner Hand ihr folgt. Die Waffe ist noch nicht geladen. Du darfst den Auslöser nicht berühren. Ich zeige Estelle, wie sie damit aus deiner Hand zielt und schießt. Du trägst das Gewicht, sie trifft die Entscheidung. Wenn sie geschossen hat, spannst du die Sehne, damit sie erneut schießen kann. Beim Schießen ist sie deine Herrin. Bist du einverstanden, mein Infant?«
    »Ja. Ich bin einverstanden.«
    Grymonde hatte sich immer für verrückt gehalten und war stolz darauf gewesen. Aber mit Wahnsinn wie diesem hier hätte er Paris beherrschen können.
    »Aber wo ist La Rossa?«
    »Ich bin bei dir, Tannser«, sagt Estelle, »Amparo ist auch bei dir.«
    »Das weiß ich«, antwortete Tannhäuser. »Du hast Papin erschossen. Du hast deine Schwester von den Dächern heruntergetragen. Du hast sie vor den Nonnen gerettet. Du hast sie zu mir gebracht. Du bist auf dem blinden Drachen geflogen. Niemandem vertraue ich mehr, Mädchen, nur Grégoire traue ich so sehr.«
    »Was soll ich tun?«, fragte La Rossa.
    »Ich zeige es dir. Zuerst übst du mit mir, dann mit Grymonde. Aber ich muss dir noch eine andere Aufgabe übertragen. Eine viel größere.«
    »Ich übernehme sie«, sagte La Rossa.
    Eine Flamme der

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