Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Sie würden nur zur Beute der Schlächter.«
Grymonde wandte sich zu der Bande und hob die Arme.
Estelle schaute zu ihnen hinunter. Sie war noch nie so aufgeregt oder so furchtsam gewesen. Ihre Beine umklammerten den riesigen Nacken. Sie lutschte an ihrem Zeigefinger, um sicher zu sein, dass er sauber war, und legte ihn Amparo an die Lippen. Amparo nuckelte an ihrer Fingerspitze. Grymondes Kriegerstimme hallte in den Höfen wider.
»Kinder von Cockaigne. Für mich ist die Zeit gekommen, von euch Abschied zu nehmen.«
»Nein!«, riefen die Jungen und Mädchen.
»Ja. Ich bin fest entschlossen, in diesem Blutbad zu ertrinken, in dem Blut aus den Adern unserer Feinde. Trauert nicht um mich, sondern haltet mich in euren Herzen lebendig, denn da werde ich bleiben. Immer. Ihr könnt in den nächsten Tagen das Wehklagen ihrer Frauen hören. Ihr könnt die Geschichten anhören, wie der Infant aus diesem Leben geschieden ist, denn sie werden ungeheuerlich und schrecklich sein. Und all das Weinen und Klagen und all diese Geschichten sollen euch anspornen, das Land wieder aufzubauen, in dem Milch und Honig fließen. Wollt ihr das für mich machen?«
»Ja!«
»Schwört ihr mir das?«
Raue und von Herzen kommende Schreie erfüllten den Hof mit Versprechungen.
»Kein Morgen!«, brüllte Grymonde.
Estelle sah, wie sich Tannser zwei Bögen und Köcher umhängte. Er nahm noch eine Armbrust auf und ging fort. Der Junge mit der Hasenscharte folgte ihm. Der kahle Hund mit dem goldenen Halsband trottete hinter dem Jungen her. Sie machten sich auf den Weg zu den Strömen von Blut.
Estelle und ihre Schwester Amparo gingen mit.
Und dann würden sie alle zusammen nach Hause gehen.
Sie zog an Grymondes Ohren. Er lachte. Er war von Sinnen.
»La Rossa, jetzt bist du mir Flügel und Augen.«
Estelle sagte: »Lass uns fliegen.«
KAPITEL 27
D IE S CHWÄRZE
Er konnte ohne Augen auskommen. In Paris nach Sonnenuntergang waren Augen ohnehin nicht besonders von Nutzen – schon gar nicht in den Höfen. Schließlich hatten diese Stunden einen großen Teil seines Lebens ausgemacht. Die Nase nutzte ihm in dem ewigen Gestank auch nicht viel, und das war auch gut so, denn im Augenblick konnte er nur den Geruch seiner verkohlten Augenhöhlen wahrnehmen. In den Höfen brauchte man im Dunkeln einen sechsten Sinn. Der war bei ihm immer schon sehr scharf gewesen, sonst wäre er längst nicht mehr am Leben. Aber nun vernebelte ihm der Schmerz die Sinne. Nicht der Schmerz der Wunden, die er sich beim Fall vom Dach zugezogen hatte. Die spürte er nicht einmal. Sondern der Schmerz der Verbrennungen. Der hatte keine Mitte, er verschob und verzog sich von einem Augenblick zum nächsten. Er kam nie zur Ruhe. Er war nicht nur ein Schmerz, sondern viele. Er flackerte und flammte auf und flüsterte und brannte. Er war überall, und doch konnte Grymonde keinen Ort nennen, konnte keinen Kreis darum ziehen und ihn ausschließen, wie er es bei der Wunde am Bein hätte tun können. Der feurige Schmerz umgab seinen Schädel und alles, was darin war. Schmerz war Leben.Aber es ärgerte ihn, dass er mehr als nur blind war. Er brauchte einen weiteren Stein der Unsterblichkeit.
Er musste seine Rolle spielen.
Wenn schon sonst nichts, so konnte er seine Rolle sehen, selbst durch den Schmerz. Er stellte sie sich vor. Die Karten, die seine Mutter gezogen hatte, kamen ihm in den Sinn. Er würde nicht länger den Gehängten spielen, der sich selbst verraten hatte. Er würde nicht mehr das Opfer sein, das der Gaukler beim Spielen ausnahm. Seine Rolle war jetzt die des Narren, der am bröckelnden Rande des Abgrunds stand. Der am Anfang und am Ende gestrandet war. Der alles und doch nichts wusste. Mit seinem Stab und seinen Lumpen und den beiden schönen Federn im Haar. Er brauchte seine Sinne nicht. Er musste nur sein. Und auf den Pfaden wandern, die ein Herz hatten.
Seine großen Füße waren ein Vorteil. Er stampfte mit ihnen auf, als wollte er Löcher in die Erde schlagen, langsam und bedächtig. Bei jedem Auftreten des linken Fußes stach er den Speer in seiner Rechten in den Dreck. Es kam ihm richtig und natürlich vor. Er würde nicht fallen.
Auf seinen Schultern trug er die beiden kostbarsten Geister der ganzen Schöpfung – sie waren so leicht, dass er ihr Gewicht kaum spürte. Die eine ein Stern, der ihn führen sollte. Die andere auch eine Närrin. Eine winzige Närrin, die ebenfalls am Rande des Abgrunds wankte, wo Ende und Anfang einander trafen, die alles
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