Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Marionette eines Wahnsinnigen.«
»Macht mich das nicht zu benommen zum Kämpfen?«
»Du bist benommen vom Schmerz. Der Schmerz und das Opium werden einander aufheben, wie Bitteres und Süßes. Aber vielleichthast du Wahnvorstellungen. Also, Estelle, pass auf, dass er aufgeweckt bleibt.«
Grymonde warf sich den Stein der Unsterblichkeit in den Rachen. Er war auf der Zunge bitter, aber er mochte das. Der Geschmack war bitter, doch die Aussicht auf Visionen war süß.
Sie überquerten die Rue Saint-Denis ohne Zwischenfälle und machten sich durch schmalere Straßen auf den Weg nach Süden. Ab und zu krachte in der Ferne ein Schuss, im Osten und im Westen, aber keine Salven mehr. Eine weitere Mörderbande machte noch einen zweiten Umweg erforderlich. Grymonde fiel nicht hin.
Das Hindernis, dem sie nicht ausweichen konnten, waren die unzähligen Leichen von Hugenotten, die am Weg lagen. Eine Saat des Hasses, der Habgier, der Dummheit und der Macht. Er hatte darin auch seine Rolle gespielt. Er schämte sich dafür. Er hatte nicht für eine Religion getötet, denn seine eigene Religion hatte weder einen Namen noch Priester. Aber was scherte das die Getöteten? Er erinnerte sich an das namenlose Mädchen, geschändet inmitten des Gemetzels seiner Familie. Er hatte sie verschont. Er erinnerte sich an seine eigenen Worte, die er an Tannser gerichtet hatte. Was hatte er ihr erspart?
Er hörte, wie Tannser Estelle zu den Ereignissen ihres Tages befragte. Er hörte mit halbem Ohr zu, und seine Gedanken wanderten. Er hörte Typhaines Namen, und er zuckte bei der Erinnerung an ihre Miene zusammen, als sie ihn verspottete und Samson nannte und vorschlug, ihn zu blenden. Die Intensität ihres Hasses erstaunte ihn, aber er hatte zu lange damit gelebt, um sich noch darüber zu wundern. Was das Blenden betraf, so hatte ja auch er Geld eingestrichen, um einer Frau die Brüste abzuschneiden. Und oft hatte er mit der Menge gejohlt, wenn jemandem auf der Place de Grève die Eingeweide aus dem Leib gerissen wurden. Er hörte Petit Christian.
»Der grüne Scheißkerl gehört mir. Ich erhebe Anspruch auf ihn.«
Estelle schlug ihm auf den Kopf.
»Bleib hier stehen«, sagte sie, »und sei still.«
»Ritter? Wo bist du? Schenkst du ihn mir?«
Er spürte eine große Hand flach auf der Brust und blieb stehen.
»Wenn ich kann. Aber Geduld, mein Infant. Höre auf Estelle. Sonst fällst du.«
»Hast du gehört?«, fragte Estelle. Sie war ungehalten. »Hör auf mich.«
»Das mache ich, Liebchen, das mache ich, es tut mir leid.«
Grymonde wartete, während weitere Leichen aus dem Weg geräumt wurden. Doch das eigentliche Hindernis war die Tatsache, dass er keine Augen hatte. Eine Entfernung, die er noch am Nachmittag in weniger als zehn Minuten spaziert war, schien nun Stunden in Anspruch zu nehmen. Wenn er Carla an jenem Morgen umgebracht oder das Papin und Bigot überlassen hätte, dann hätte er noch seine Augen. Cockaigne wäre nicht zerstört, und seine Mutter Alice und viele andere mehr würden noch im Mondschein Schweinebraten essen. Ja, und die Nachtigall würde nicht auf seinem Rücken fliegen, und er hätte niemals ihren Herzschlag gespürt, und La Rossa hätte keine Schwester zu verteidigen, und er selbst hätte gelebt und wäre gestorben, ohne je den Mut aufzubringen, Liebe einzugestehen.
Wie seltsam! Wie wunderbar!
Er wollte weinen, hatte aber keine Augen, mit denen er weinen konnte.
Er hörte auf Estelle und stampfte weiter.
Er sah das Gesicht seiner Mutter vor sich; violett geädert und verhärmt; ein Anblick jenseits der Träume der uralten Seher; und in diesem Gesicht eine Frau, die nicht ihresgleichen hatte, bis sie Carla zu ihrer Schwester salbte. Ja, er hatte vor dem Geburtszimmer gelauscht. Er hatte Alices Ratschläge niemals befolgt, obwohl er alle ihre Worte gehört und niemals an ihrer Weisheit gezweifelt hatte. Er hatte ihr nicht ein einziges Mal gesagt, dass er sie liebte. Stattdessen hatte er ihr Geschenke gebracht, die sie ablehnte, weil sie gestohlen waren. Und er hatte ihr mehr gebracht, und auch die hatte sie abgelehnt, bis hin zum Fleisch und den Getränken, die er auf ihren Tisch gestellt hatte. Jeder Brocken, den sie je gegessen hatte, war von ihren eigenen spärlichen Einnahmen bezahlt.
Der einzige Ratschlag seiner Mutter, den er befolgt hatte, ohne dass sie ihn gegeben hatte, war, dass er Carlas Leben verschont undsie nach Hause gebracht hatte. Und doch hatte sie ihm diesen Ratschlag ihr Leben
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