Die Blutnacht: Roman (German Edition)
erschallte ein Schrei vom Ufer. Der klang so verzweifelt, dass er selbst Tannhäuser zutiefst bewegt hätte, wäre er nicht von Garnier gekommen. Die scharfen Kanten, die Altan in den Breitkopfpfeil geschliffen hatte, gruben sich bei jedem Atemzug und jeder noch so kleinen Bewegung tiefer in die Gedärme des Hauptmanns. Garnier brüllte wieder.
»Beim Blut von Saint-Jacques!«
Tannhäuser hörte einen Mann um ein Wunder beten. Aber ein Mann kniete beim Hauptmann, und er verstand diesen Aufruf anders. Er stand auf. Es war Fähnrich Bonnett. Seit Tannhäuser Notre-Dame verlassen hatte, hatte ihn dieser übereifrige kleine Kerl mehr geplagt als jeder andere. Sein erster Impuls war, den Mann einfach zu erschießen, aber im Augenblick war eine derartige Provokation vielleicht nicht weise. Er zögerte und erfuhr sogleich, warum er sonst dem Zögern misstraute.
»Beim Blut von Saint-Jacques!«, schrie Bonnett. »Für Gott und den König!«
Die Meute brüllte, zunächst noch ohne konkrete Form. Der Schlachtruf wurde übernommen.
Tannhäuser schoss Fähnrich Bonnett einen Pfeil in die Brust.
Bonnett fiel über seinen Meister und verschärfte dessen Todesschmerzen.
Tannhäuser wandte sich ab.
Er sah, wie Orlandu über die Bordwand in das Fischerboot glitt.
Grymonde hatte beide Hände an der Hellebarde, hebelte aber nicht an der Klampe.
Pascale schrie ihm etwas ins Gesicht.
»Pascale!«, rief Tannhäuser. »Alle an Bord!«
Sie blieb stehen und schaute ihn an. Tannhäuser deutete auf das Fischerboot.
Dann wandte er sich wieder der Pilgermeute zu.
Durch eine plötzliche Bewegung hinten am Kai wurden zwei Pilger auf den ersten Leichter gedrängt. Ein dritter sprang freiwillig hinter ihnen her, dann ein vierter. Tannhäuser wartete, bis sich eine ungeordnete Reihe versammelt hatte, spannte dann den Bogen und schoss auf den vordersten Pilger. Der Pfeil verschwand bis zur Fiederung tief im Bauch des Mannes, der hinfiel. Hinter ihm sackte noch der nächste in die Knie, und die blutigen Federn ragten aus seinem Gemächt. Tannhäuser legte den letzten Pfeil ein, den er in der Faust hielt, schoss ihn ab und nagelte die beiden nächsten zusammen wie ein Paar rammelnde Hunde. Schon jetzt schmerzten ihm die Schultern vom Gewicht, das Altans Bogen hatte. Er reckte sie, während er sich umschaute.
Grymonde hebelte die Hellebarde unter die Klampe. Er machte nach jeder Bewegung eine Pause, weil schreckliche Krämpfe in Wellen durch seinen Körper rollten. Nur Paris konnte einen solchen Mann geschaffen haben, und nur Paris konnte ihn so zu Fall bringen. Alles, was er hatte, warf er in diese eine Aufgabe, die Kinder zu befreien, die ihn befreit hatten.
Es würde Tannhäuser sehr leidtun, den Infanten zurückzulassen. Er war erleichtert, dass er Pascale nicht mehr sah. Außer ihm waren alle im Fischerboot, die dort sein sollten.
Er drehte sich wieder um.
Die Wut auf dem Kai hatte sich ein wenig abgekühlt. Man hatte die Invasion der Leichter aufgegeben.
Am Ufer, am Kai, auf dem Platz erschallten weiterhin Schlachtrufe, aber die Rufenden machten keinerlei Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Gott. König. Saint-Jacques. Saint-Jacques. Bei seinem heiligen Blut.
Blut. Blut. Blut.
Sie hätten ihn nicht so verärgert, wenn sie gewusst hätten, wovon sie sprachen. Tannhäusers Haut war mit dem Blut von Männern getränkt, die er verachtete. Er war so erschöpft wie nie zuvor. Sein Magen knurrte. Er hatte Durst. Seine Lenden schmerzten. Seine Füße auch.
Er wandte ihnen den Rücken zu, stellte aber fest, dass er den nächsten Schritt nicht tun wollte. Er hatte keinen guten Grund zum Umkehren, kaum schlechte und viele höchst moralische und praktische, die ihm das Gegenteil anrieten. Aber irgendwie passte es ihm nicht. Diese Hunde schnappten ihm nun schon den ganzen Abend an den Fersen herum, und er war vor ihnen fortgelaufen. Er hatte das Rudel dezimiert, doch die Übrigen würden nun nach Hause zurückkehren und eine ganz andere Geschichte erzählen, und in nicht allzu langer Zeit würden sie die selbst glauben. Ihre Geschichte interessierte Tannhäuser nicht, aber seine eigene sehr wohl. Er hatte Orlandu für ähnliche Absichten gescholten, doch auch das war wohl ein Privileg des Alters. Die Erinnerung daran, wie Feiglinge und Kindermörder hinter ihm her spuckten, während er sich abwandte und ging, würde er einfach nicht ertragen können.
»Mein Infant.«
Grymonde hielt inne. Auf diese Entfernung sah es aus, als wären
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