Die Blutnacht: Roman (German Edition)
vierzig Schritt über das Ufer zurücklegen, ohne dass jemand versuchte, ihn aufzuhalten. Falls er sich weigerte, konnte Tannhäuser auf diese Entfernung einen Breitkopfpfeil auf Garnier abschießen und ihn sicher in die Oberschenkel, mit etwas Glück in die Blase treffen. Danach wäre es gleichgültig, ob Milch oder etwas anderes in Orlandus Eimer war. Wenn dann auf der großartigen Bühne Tumult herrschte und der günstige Augenblick verpasst war, würde Orlandu wieder ans Überleben denken, obwohl seine Chancen dann sehr viel schlechter stehen würden.
Orlandu erreichte das untere Ende der breiten Holztreppe. Garnier schaute zu ihm hinunter und dann wieder weg, als wäre der junge Mann für seine Sorgen unerheblich. Orlandu war gerade einmal acht Schritte vom Kai und einen großen waghalsigen Ausfallschritt von der Erlösung entfernt. Tannhäuser wollte ihn nicht mit einer allzu freundlichen Begrüßung in Gefahr bringen; und er wollte einen freien Raum schaffen, eine Art Todeszone, in die sich nur die Waghalsigsten stürzen würden. Er wartete, bis Orlandu die dritte Stufe erreicht hatte, und rief dann: »Wir sind abfahrbereit.«
Orlandu blieb stehen und schaute ihn an.
Garnier, dessen Pathos keineswegs durch seine Schande gemildert war, missverstand Tannhäusers Absicht.
»Dann fahrt in Gottes Namen!«, schrie er. »Ich habe nicht die Macht, Euch zu verfolgen!«
Der Mond schien voll auf sein Gesicht. Er schwitzte in seiner stählernen Rüstung. Jemand hatte sein Privatheer dezimiert, ihm seinen Tag des Ruhmes verdorben. Unter all dem Zorn und der Boshaftigkeit waren Selbstmitleid und Angst zu spüren.
Tannhäuser sagte: »Heute wird der Teufel deine Seele holen.«
Garnier legte die Faust ans Herz, als wollte er sich einen Anschein ritterlicher Manieren gönnen.
»Ich war nie Le Telliers Mann. Ich habe Euch bewundert. Nichts von all dem hier war notwendig.«
Orlandu hatte sich nicht gerührt, obwohl ihm seine Möglichkeiten klar sein mussten.
Tannhäuser deutete auf die riesige jaulende Totenstadt.
»Sagt Ihr mir nicht, was nötig war und was nicht.«
»Hört Ihr mich nicht, Ritter? Ich ergebe mich. Ihr habt gewonnen.«
Orlandu wandte sich ab, als wäre der Kampf mit seinem Gewissen beendet. Er setzte den Eimer ab. Er würde sich der Vernunft beugen. Wenn Tannhäuser diese Farce noch ein bisschen länger aufrechterhalten konnte, würde Orlandu auf der Schiffsbarriere sein, ehe jemand es bemerkt hatte oder sich auch nur darum scherte. Garnier, den sein Schweigen verstörte, bewies sich als hervorragender Narr.
»Euch soll alle Ehre gebühren. Was wollt Ihr noch mehr?«
Tannhäuser erhaschte einen Blick auf etwas Blaues an Garniers Hals. Er erkannte Carlas Schal, den Garnier getragen hatte, als er das Hôtel verließ, und er hatte erraten, wie sie ihn eingesetzt hatte.
»Tragt Ihr da das Tuch meiner Frau?«
Jemand lachte schallend. Nervöses Gelächter wehte über den Platz.
Tannhäuser grinste. Sollten sie sich doch für die Sache erwärmen, wenn das möglich war.
Garnier nahm den Schal vom Hals, als wäre es die Schlinge eines Henkers.
Orlandu zog einen Lappen vom Eimer.
Tannhäuser krampfte es den Magen zusammen.
Dieser Sohn eines Fanatikers würde Garnier den Kopf zeigen. Er hatte nicht die Absicht, von der Bühne abzugehen, er eroberte sie zurück. Auch das verstand Tannhäuser, aber es ging nun nicht mehr um Gewissensbisse. Alle Fehler waren getilgt, als er Dominic ermordete.
»Du da! Der Mann mit dem einen Arm und dem Eimer. Hol mir Carlas Tuch!«
Orlandu ließ den Lappen wieder auf den Eimer fallen, drehte sich aber nicht um und richtete sich nicht auf.
»Carla ist müde. Und ich bin ungeduldig. Stelle mich nicht zu lange auf die Probe.«
Orlandu zögerte.
Er griff in den Eimer.
Er musste seine Männlichkeit beweisen.
Es war Zeit, dass er begriff, was der Preis dafür sein würde.
Als Orlandu Dominics Kopf am Haar packte, spannte Tannhäuser den Bogen und schoss.
Das Zuggewicht war ungeheuer. Die türkische Sehne sang wie eine Harfe.
Orlandu schleuderte den Kopf die Treppe hinauf, aber das bemerkte kaum jemand mehr.
Der Breitkopfpfeil bohrte sich in Garniers Schritt, eine Daumenbreite unterhalb des Harnischs. Er musste einen schweren Knochen getroffen haben, denn Garnier wirbelte herum wie eine riesige Marionette. Er prallte mit einem so schrecklichen Geräusch auf die Planken, dass seine Truppen mit ihm stöhnten. Dominics Kopf rollte und kam nur wenige Zoll vor seinem
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