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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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gespielt, während es noch in ihr lebte. Selbst jetzt tröstete sie der Gedanke, dass sein ganzes kurzes Leben mit der reinsten Schönheit erfüllt gewesen war. Und wenn es so war, wie Mattias nach der Lehre von Petrus Grubenius behauptete, dass es nämlich im Mutterschoß keine Zeit gab, nur ein Dasein vor aller Zeit, dann hatte Bors sie während dieser ganzen Ewigkeit vor der Morgendämmerung der Schöpfung spielen hören.
    Sie nahm ihren Bogen auf und schaute zu den Kindern. Deren Augen waren im Halbdunkel weit aufgerissen.
    »Wir haben nicht für die Königin gespielt, also musizieren wir jetzt für eure Mutter.«
    »Maman hat uns doch schon gehört«, warf Antoinette ein.
    »Das stimmt, aber jetzt werden wir spielen wie nie zuvor.«
    Carla zählte vor, und sie begannen mit dem Chanson spirituelle , das sie für die königliche Hochzeit komponiert hatte. Es war ein Rondo zu vier Stimmen, eine Gesangsstimme, die Martin übernahm, und drei Instrumentalstimmen. Antoinette spielte eine Stimme auf der Blockflöte.
    Bisher hatte Carla großen Wert darauf gelegt, dass alle übten und eine ordentliche Leistung brachten. Nun spielte Carla nur für sich und ihr Kind. Sie schloss die Augen. Wenn ihr Kind vielleicht nie in die Zeit hineingeboren würde, wenn es nur die Ewigkeit kennen würde, dann wollte sie wenigstens ihr Bestes versuchen, um ihm seine Welt mit dem Zauber der Schönheit und nicht mit Schrecken zu erfüllen. Sie ließ sich von der Musik, dem Holz, den Darmsaiten in die Welt vor aller Zeit forttragen.
    Wenn sie zusammen starben, würden sie auch zusammen in dieser Welt vor aller Zeit bleiben. Sie dachte an Mattias, dessen Seele beinahe so groß wie die Ewigkeit war und alle Dinge und allen Verlust umspannen konnte. Es schmerzte sie, wie sehr ihr Tod ihn treffen würde. Und doch würde Mattias ausharren, bis er sich zu ihnengesellte. Und das würde er gewiss tun, denn Carla würde jedes Paradies verachten, das ihn nicht aufnehmen wollte.
    Als Martin die Stimme versagte, zögerte Carla nicht in ihrem Spiel.
    Als Antoinette ihre Flöte fallen ließ, war es ihr gleichgültig.
    Als Lucien und Charité zu spielen aufhörten, spielte sie weiter.
    Als das Hämmern von Metall auf Holz anfing und Symonne zu schreien anhob und die Kinder in das Geschrei einfielen, verschloss Carla ihre Ohren vor dem Lärm.
    Sie spielte weiter.
    Als überall im Haus Glas zu splittern begann, öffnete Carla die Augen nicht und ließ keine Note aus. Sie spielte weiter, und ihr Kind hörte zu, und es liebte sie, und sie liebte es. Sollte der Tod sich doch in ihrem Lied zu ihnen gesellen, wenn er wollte. Sie würden inmitten von Liebe und Musik sterben.
    Sie hörte erst auf zu spielen, als Altan Savas ihr die Gambe aus der Hand riss. Sie schlug die Augen erst auf, als er sie auf die Beine zerrte und aus dem Wohnzimmer zog.
    Das große Fenster über der Haustür, das den Eingangsflur erhellte, hatte nur noch einige wenige gezackte Glasreste an den Rändern. Steine und Bleikugeln lagen inmitten der glitzernden Scherben und der umgefallenen Kerzen auf den Fliesen des Flurs.
    Am Fuß der Treppe bebte die Haustür unter den Schlägen, die von der Straße immer abwechselnd auf das obere und das untere Scharnier geführt wurden. Zwei Hämmer. Die Tür war massiv, aber keine Tür ist stärker als ihre Scharniere, und die klapperten und verbogen sich an ächzenden Schrauben. Überall im Haus zersplitterten Fenster. Über allen Verzweiflungsschreien aus dem Wohnzimmer hörte Carla seltsames Tierjaulen und fluchende Menschen.
    Altans Hand war ungeheuer stark. Sein Griff schmerzte sie am Arm.
    Er schrie ihr ins Ohr: »Wir gehen, jetzt.«
    Er ließ sie los, und Carla folgte ihm ohne Widerrede die Treppe hinunter. Altan trug seinen türkischen Hornbogen über einer Schulter. Er zog das kurze Schwert mit der schweren Klinge, das er am liebsten benutzte. Und er zückte einen Dolch. Carla spürte, wieeine kleine Hand die ihre packte. Es war Antoinette. Carla hielt sie fest und zog sie hinter sich her.
    Auf halbem Weg die Treppe hinunter fuhr ihnen ein grässlicher schriller Schrei bis ins Mark. Eine Flamme loderte draußen vor dem zerborstenen Fenster über der Tür, und dann flog ein brennender Hund durch das schartige Fensterloch auf sie zu.
    Antoinette schrie auf. Zum ersten Mal schrie auch Carla.
    Sie zerrte das Mädchen hinter sich her, taumelte wieder die Treppe hinauf, während Altan mitten in der Luft auf das unglückselige Tier einhackte, das vom

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