Die Blutnacht: Roman (German Edition)
ziemlich lange Zeit. Seine Bande blieb leise, was Carla zunächst überraschte, aber die Angst der Diebe vor Grymonde war spürbar.
In der Stille bemerkte sie, dass die ganze Stadt lautlos zu sein schien.
Sie hatte sich an den unaufhörlichen Lärm gewöhnt, der sonst das Tageslicht begleitete, und nun war die Ruhe erstaunlich. Und doch konnte sie die unsichtbaren Menschenmassen spüren. Es war, als hielte die ganze Stadt genau wie die Diebesbande die Luft an. Es erinnerte sie an den ersten Tag der Belagerung von Malta, als in der Stunde vor der ersten Schlacht eine ähnliche gespenstische Stille geherrscht hatte.
Grymonde kam zurück und rieb sich die Handflächen an den Oberschenkeln. Er winkte die Karawane vorwärts. Als ihr Karren sich ruckartig in Bewegung setzte, packte eine weitere Wehe Carlas Eingeweide.
Sie rappelte sich auf die Knie hoch, drehte sich zum hinteren Brett des Wagens und klammerte sich mit beiden Händen an das Holz. Sie senkte den Kopf zwischen die Arme und schnappte nach Luft. Sie unterdrückte ihr Stöhnen. Der Krampf war so unerbittlich, dass sie sicher war, nicht einmal ihr Tod hätte ihn beenden können. Sie fragte sich, wie lange die Tortur diesmal dauern würde und ob sie sie umbringen würde. Ihr war klar, dass solche Gedanken ihre Ausdauer schwächen würden. Die Natur hatte sie im eisernen Griff. Das Leben spannte sie aufs Äußerste an. Ringsum tobte die Grausamkeit. Sie durfte nicht mehr nachdenken. Denken öffnete der Panik Tür und Tor.
Sie ergab sich ihrem Instinkt, und ein seltsames Hochgefühl stieg in ihr auf. Ein wildes Pferd galoppierte, und sie saß auf seinem Rücken. Dazu musste man das Herz für die Seele des Tieres öffnen und eins mit ihr werden. Wenn man dagegen ankämpfte, wurde man abgeworfen.
Die Wehe ebbte ab, ihr Bauch war angespannter denn je. Sie spürte, wie sich das Kind in dieser rasch schrumpfenden Kammer bewegte, gerade eben noch. Ein kaum wahrnehmbares Gefühl, eine letzte Nachricht von ihm, während seine Welt sich auf den Kopf stellte und sich bereit machte, es in diese Welt hinaus zu stoßen. Das Kind hatte ein wilderes Pferd zu reiten als sie. Wie tapfer es war! Sie wurde von einer so großen Liebe erfüllt, dass sie fürchtete, es würde ihr das Herz sprengen. Ihre Liebe reichte hinaus zu Mattias, und sie spürte, wie seine Seele ihr antwortete und sie berührte. Einen Augenblick lang war er bei ihr, so spürbar wie ihr Kind.
Er war bei ihr, das wusste sie.
Er war nah.
Sie stieß einen einzigen Schluchzer aus.
Ihre Gedanken waren leer. Einen Augenblick lang schwebte sie in der Stille. Dann hörte sie das Quietschen der Achse und der Räder und das Grunzen und die Flüche der Männer, die den Wagen zogen. Sie fühlte die Wärme der aufgehenden Sonne und das Gewicht ihres Bauchs. Sie ließ das Brett los und hockte sich hin. Sie hob den Kopf und schaute in Grymondes Gesicht.
Im Tageslicht hatten seine Augen das schönste Braun, das sie je gesehen hatte. Sie waren rehbraun wie Eulenaugen und schienen auch genauso viel zu sehen. Sie passten überhaupt nicht in das finstere und unproportionierte Gesicht, sondern waren die Augen eines jüngeren Mannes und einer älteren Seele. Sie schauten sie ruhig an. Die gewaltige Stirn lag in Falten.
»Habt keine Angst«, sagte er.
»Ich habe keine Angst.«
»Nein. Das sehe ich jetzt.«
Grymonde schritt hinter dem Karren, seine Brust berührte beinahe das hintere Brett, das kaum breiter war als seine Schultern. Er lächelte.
»Ihr werdet eine Weile in meiner Gesellschaft sein, zumindest bis Euer Kind geboren ist und Ihr Euch besser fühlt. Sagt mir, wie sollte ich Euch nennen? Mylady? Madame? Euer Gnaden? Meine Manieren sind ungehobelt, aber ich möchte nicht, dass Ihr denkt, ich hätte keine.«
»Ihr könnt mich Carla nennen.«
Ihre Antwort überraschte sie beide.
»Eine gute Wahl. Und ein starker Name. Er wird Euch gerecht.«
»Wie spricht man einen König der Diebe an?«
Er lachte, dass das Wagenbrett bebte.
»Grymonde reicht. Was das Königreich betrifft, so ist meine Armee, wie Ihr seht, nur eine Handvoll Ameisen, die durch eine Wildnis voller Tiger krabbelt.«
»Ich würde sie eher mit Skorpionen vergleichen.«
Der Wagen kam zum Stehen und neigte sich zur Seite, weil ein Rad in ein Schlagloch gerollt war.
Carla packte die Seitenwände des Karrens. Mit einer Schulter hob Grymonde das Gefährt an und schob es mit solcher Kraft vor, dass Papin und Bigot zu kämpfen hatten, um nicht zu
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