Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Freude derjenigen, die glaubten, sie hätten sich diese Gräueltaten ausgedacht, die doch so alt waren wie die Welt.
Er konnte es nicht ertragen. Er ging einen Schritt auf das Zimmer zu und blieb stehen.
Er wollte Carla nicht so in Erinnerung behalten, wie er sie in diesem Zimmer vorfinden würde.
Er wollte nicht, dass dieses Bild sich zu all den anderen gesellen würde.
Er wollte das bisschen Menschlichkeit, das er noch hatte, nicht auch noch verlieren.
Tränen brannten ihm im Hals. Er schämte sich und wunderte sich zugleich.
Er schluckte die Tränen herunter.
Er würde einen Priester holen, der ihre sterblichen Überreste segnete.
Dann würde er sie anschauen.
Er ging weiter treppab, aus diesem Totenhaus auf die Straße.
Die Rue du Temple lag immer noch ruhig da. Gleich bei der Vordertür stand – ein so ungewöhnlicher Anblick, dass er ihn nicht bemerkt hatte – ein schwerer Holzstuhl. Daneben fand er auf der Straße einen halbvollen Zinnbecher mit Wein. Er stellte sich vor, wie der Meisterdieb seinen Triumph genoss. Tannhäuser setzte sich auf den Stuhl. Er nahm den Becher auf, roch an dem Wein und nippte daran. Er spülte sich den Mund und spuckte aus. Dann trank er einen Schluck. Der Wein war gut. Aus einer Tasche, die in seinen Schwertgurt eingenäht war, zog er einen Schleifstein und weichte ihn in dem Wein ein.
Grégoire und Juste kamen mit einem schimmeligen Stück Sackleinen.
»Das haben wir im Keller gefunden«, sagte Juste. »Wenn es Euch recht ist …«
»Mit Eurer Erlaubnis …«
»Decken wir Eure Frau damit zu.«
»Und sprechen ein Gebet für sie.«
»Das würde mir gefallen«, sagte Tannhäuser. »Danke.«
»Ihr solltet auch ein Gebet für sie sprechen«, meinte Juste.
»Carla hätte sehr viel von mir gebraucht und nicht bekommen.«
Er runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass unter Grégoires Hemd etwas zitterte.
»Sind wir wirklich Eure tapferen, verlässlichen und resoluten Kameraden?«, fragte Juste.
»Was hast du da?«, wollte Tannhäuser wissen.
»Das haben wir auch im Keller gefunden.«
Grégoire zog einen kleinen hässlichen, aber sehr muskulösen Köter am Nackenfell aus seinem Hemd. Der Hund hechelte, seine Augen glänzten ängstlich. Sein Hinterteil war eine angesengte Flickendecke aus verbranntem Fell und wunder Haut.
»Können wir ihn behalten?« fragte Juste.
»Er wird uns langsamer machen«, sagte Tannhäuser.
»Meister, er kann schneller rennen als wir, vielleicht sogar schneller als Clementine.«
»Er kann uns bewachen, wenn wir schlafen«, sagte Juste.
»Er ist sehr mutig.«
»Ich bin dagegen«, sagte Tannhäuser. »Er stinkt.«
»Wir waschen ihn«, meinte Grégoire.
»Ihr riecht ihn oben von Clementines Rücken nicht«, fügte Juste hinzu.
»Ihr habt euch also zusammengetan.«
Tannhäuser holte den Schleifstein aus dem Wein und zog ihn über den Dolch, den er erbeutet hatte. Er schaute schräg auf die Schneide und beschloss, den Winkel zu schärfen.
»Was macht Ihr da?«, fragte Juste.
»Ich gebe dieser Klinge eine neue Schneide.«
Das Morgenlicht brachte eine Inschrift auf dem nicht geschliffenen Teil der Klinge zum Vorschein. Auf der einen Seite stand: Fiat justitia . Auf der anderen: et pereat mundus .
»Kannst du mir das übersetzen, Juste?«
» Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde .«
Tannhäuser zog die Klinge über den Schleifstein. Das Reiben von Stein gegen Stahl beruhigte ihn. Während sich die Welt ringsum auflöste, konnte er sich auf diese beiden Stoffe zumindest verlassen, Hartes, das von Härterem geschliffen wurde, vom Wein geschmeidig gemacht.
Grégoire versuchte, den Hund wieder in seinem Hemd verschwinden zu lassen, aber der wand sich und verriet ihn.
»Hat dieser arme Köter einen Namen?«
»Wir wollten ihm keinen Namen geben, falls Ihr Euch entschließen würdet, ihn zu töten«, sagte Juste.
»Denn wenn ihr ihm einen Namen gegeben hättet, würde Euch sein Tod trauriger machen.«
Sie nickten beide.
»Ihr habt eure Gefühle auf seine Kosten geschützt. Ein namenloser Hund mag leichter zu verlieren sein, aber er ist auch leichter zu töten.«
Die Jungen schauten einander bestürzt an. Sie blickten auf die Klinge.
»Ist Clementine nicht durch ihren Namen vom Arbeitspferd zum Mythos geworden?«
Sie machten beide gleichzeitig den Mund auf, aber er sprach zuerst: »Ich habe noch nie im Leben einen Hund getötet. Carla hat Hunde geliebt. Ich wollte euch nur eine Lektion erteilen. Es
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