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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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sehr viel Blut. Soll ich noch mal nachsehen?«
    »Ist sie schwanger?«
    Juste zögerte. Seine Augen huschten hin und her.
    »Trägt sie ein Kind im Leib? Ist ihr Bauch dick?«
    »Ja, ich glaube schon.«
    »Du glaubst es?«
    »Ja, sie ist vielleicht schwanger.« Juste wurde rot. »Das heißt, ich weiß es nicht genau. Ich konnte es nicht sehen. Sie hat Messerstiche, überall …« Er machte vage Gesten über seinen Bauch.
    »Hast du das Kind gesehen? Haben sie es aus ihr herausgeschnitten? Sag’s mir, Junge.«
    »Nein, ich weiß es nicht. Es tut mir leid.«
    Tannhäuser holte tief Luft. »Juste, ich bin nicht wütend auf dich. Bitte sprich weiter.«
    Juste hielt sich die Hand vor den Mund.
    Tannhäuser wandte sich ab. Er war im Unrecht. Er sollte hingehen und selbst nachschauen. Doch er fühlte sich weniger denn je in der Lage dazu. Er streckte die Hand aus und wollte Juste die Schulter tätscheln. Der wich zurück.
    »Juste, ich hätte dich nicht bitten sollen, das anzusehen. Ich war schwach. Verzeih mir.«
    »Ich habe Euch gern davor geschützt. Es war nicht so schlimm. Nicht so schlimm wie meine Brüder.«
    »Nein. Das muss schlimmer gewesen sein.«
    Er fragte sich, ob der Junge nicht ein wenig Genugtuung verspürte. Er hätte es ihm kaum verübeln können. Aber vielleicht sprach da nur seine eigene Bösartigkeit.
    »Geh und warte bei Grégoire und Clementine.«
    »Ich bin nicht ins nächste Stockwerk gegangen.«
    »Waren in dem Schlafzimmer noch andere Leichen?«
    »Nein, nur die Frau. Was macht Ihr jetzt?«
    »Warte draußen.«
    Als Juste fort war, ließ sich Tannhäuser endlich gehen und übergab sich in das geronnene Blut zu seinen Füßen. Er fühlte sich besser. Er ging die Treppe hinauf.
    Der tote Diener, das Wohnzimmer voller toter Kinder, Symonned’Aubray, mit goldener Kordel am Fensterkreuz aufgehängt, alles, wie Juste es beschrieben hatte. Man hatte die Opfer mit unzähligen Messerstichen getötet, ihnen in Hände und Arme gehackt, sie mit großer Begeisterung, aber ohne Geschick umgebracht, ohne Wissen über lebenswichtige Organe und Blutgefäße. Der Mann, der Altan getötet hatte, hätte es besser gewusst. Die Leute in seiner Bande waren keine erfahrenen Halsabschneider, denn selbst unter den Verbrechern gab es nur wenige Mörder.
    Tannhäuser stieg eine schmalere Treppe hinauf und fand zwei Schlafzimmer, beide geplündert. Im zweiten Raum roch er Carla. Ihren natürlichen Duft. Das Parfüm, das sie liebte. Er unterdrückte den aufwallenden Schmerz. Er stand ihm nicht zu.
    Frischer Ruß lag im Kamin und war über den Boden verschmiert. Er blickte zurück und sah kleine schwarze Fußspuren, die zur Tür heraus führten. Eine alte List: Sie hatten einen kleinen Jungen durch den Kamin geschickt, der ihnen die Tür aufmachen sollte. Das war ihm offensichtlich nicht gelungen. Er war sich sicher, dass Carla es nicht erlaubt hätte, dass man ein Kind tötete.
    Er sah einen halbvollen Nachttopf. Wieder wallte ihm der Schmerz in der Brust auf, eine schwarze Flut des Leids, der Scham, der Liebe. Er lehnte sich aus dem zerbrochenen Fenster zum Hof und atmete tief durch. Er hatte Juste für weniger gescholten. Für sehr viel weniger. Er hatte ihn geschlagen. Er erstickte fast an einem rauen Schrei, der aus seinen tiefsten Eingeweiden zu kommen schien.
    »Meister?« Justes Stimme ertönte aus dem Garten unten. Er fürchtete sich.
    Das Geräusch aus seiner Kehle war wohl lauter gewesen, als Tannhäuser bemerkt hatte. Er riss sich zusammen.
    »Keine Angst«, rief er zurück.
    Er hatte gehofft, eine Leiche zu finden, deren Kopf er in den übleren Kneipen der Stadt herumzeigen konnte, aber die Eindringlinge hatten ihre Toten mitgenommen. Keine leichte Sache, und gewiss wollten sie damit nicht ihre Gefallenen ehren. Sie – er, der Gefährliche – wollten nicht erkannt werden.
    Tannhäuser verließ das Zimmer und ging die enge Treppe wieder hinunter. Oben an der Haupttreppe zögerte er. Die Tür zum Schlafzimmer lag gleich hinter ihm. Er sollte ihre Leiche zumindest zudecken.Aber womit? Er wusste nicht mehr, wie man das Richtige tat. Der bloße Gedanke an das Richtige schien eine Lüge zu sein. Aber er wusste, dass er es nicht ertragen würde, Carla niedergemetzelt da liegen zu sehen. Er wollte ihr Blut nicht riechen. Überall auf der Welt war er durch verwüstete Städte geschritten. Zu oft hatte er solche Dinge gesehen, dieselben Dinge, die grausigsten Dinge. Er hatte das Gelächter gehört, die Erregung, die

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