Die Blutnacht: Roman (German Edition)
fallen.
»Skorpione, das gefällt mir besser«, sagte Grymonde. »Der Skorpion ist das Symbol des Todes, und diese Burschen leben mit dem Tod. Sie schlafen mit dem Schnitter, sie essen mit ihm, sie tragen ihn seit dem Tag ihrer Geburt auf den Schultern.«
»Das tun wir alle.«
»Wahrhaftig. Und doch hören die meisten ihn kaum je in ihr Ohr flüstern, während er für uns selten schweigt. Wenn einer von den Burschen hier je darüber nachdächte, würde er keinen Löffel Honig darauf setzen, dass er noch drei Sommer erlebt, und er hätte recht. Aber das machen sie nicht. Sie leben für den heutigen Tag, an dem der Honig gut schmeckt. Und so kennen sie mehr Freiheit als die Höchsten im Land. Wenn das ein Königreich ist, dann trage ich die Krone gern.«
Carla begriff, dass er sie beeindrucken wollte. Und sie war beeindruckt. Mehr noch, sie war gerührt.
Und doch sagte sie: »Ein Königreich, in dem Frauen vergewaltigt und Kinder gemordet werden?«
Seine Miene verdüsterte sich. Er blinzelte, um das Feuer in seinen Augen zu verbergen. Er schaute fort. Ohne es zu sehen, spürte sie, dass er die Fäuste ballte.
»Ihr wisst es nicht«, sagte er. »Könnt es nicht wissen.«
»Ich habe schon genug Schrecken ringsum erlebt«, sagte Carla.
Grymonde schaute sie an. »Schrecken vielleicht. Aber Demütigung? Schande? Widerwillen beim Klang Eures eigenen Herzschlags?«
»Ja, ja, dreimal ja.« Nun flammte ihre Wut auf. »Ich kenne das alles.«
Grymondes Mund verzog sich, und sie sah den ungeheuren Schmerz und die Gewalt in seinem Inneren.
»Ihr seid nicht als geprügelter Hund geboren.«
»Vielleicht nicht. Aber ich bin einer gewesen. Wenn Ihr mein Mitleid wollt, Ihr habt es, nehmt es an. Aber Eure Verachtung werde ich nicht hinnehmen. Ihr wisst nichts über mich. Nur, was Ihr gesehen habt. Meine Schande gehört mir. Mein Stolz auch. Also lasst Eure Skorpione ihre schlimmsten Taten tun. Ich bin bereit, meinem Schöpfer entgegenzutreten. Mein Kind auch. Seid Ihr es?«
Carla breitete ihre Arme um ihren Bauch. Ihren Erstgeborenen, Orlandu, hatte man ihr weggenommen, kaum dass die Nabelschnur durchtrennt war, und man hatte ihr das schreiende, sich windende Kind gestohlen, ehe sie auch nur sein Gesicht gesehen hatte. Sie war damals sechzehn Jahre alt gewesen. Sie hatte weitere zwölf Jahre lang den Mut nicht aufgebracht, nach ihm zu suchen. Mattias hatte ihn für sie gefunden, in einem Meer aus Blut und Tränen, und auf Kosten ihrer liebsten Freundin Amparo.
Sie schaute Grymonde in die Augen. Sie sagte kein Wort.
Seine Schultern entspannten sich.
»Wir sprechen nicht mehr darüber.«
Das bezweifelte sie, denn sein Schmerz schien zu stark. Irgendwie verstand sie ihn.
»Bringt mich zu einem Arzt. Mein Wort darauf, ich schwöre beim Leben meines Kindes, dass Ihr reich belohnt werdet, sobald es mir möglich ist.«
»Wir getretenen Hunde haben einen Spruch: Wenn man den Arzt zu einer Gebärenden ruft, verlässt nur einer lebendig den Raum.«
»Ihr könntet auch der Dankbarkeit meines Mannes sicher sein, dessen Treue unschätzbar ist.«
»Und wo ist dieser getreue Mann?«
Carla reagierte nicht auf dieses Spitze, obwohl sie schmerzlich getroffen hatte.
»Dann eine Hebamme.«
»Wenn Ihr wollt, lasse ich Euch hier auf der Straße, mit Eurer Matratze, Euren Kissen, Eurer Fiedel und Eurer hugenottischen Tochter, sogar mit einem Anteil an unserem Gold, damit Ihr Euch den Weg freikaufen könnt. Sagt nur ein Wort, und ich lasse Euch frei.«
Sie wusste, dass er es ernst meinte. Die Vernunft drängte sie, dieses Angebot anzunehmen.
Aber das wilde Pferd war im vollen Galopp.
»Ich bin schon frei.«
Carla und Grymonde musterten einander.
Endlich hob Grymonde die Hände über das hintere Karrenbrett. Er streckte sie Carla entgegen.
»Gebt mir Eure Hände«, sagt er, »dass Ihr mir vertrauen könnt.«
Carla setzte sich auf die Hacken zurück. An dieser Geste war nichts Verführerisches zu spüren. Obwohl er so männlich wirkte, schien er keinerlei Begierde in sich zu haben. Sie hatte lange genug und nah genug bei Männern gelebt, bei kämpfenden Männern; und sie kannte diese Ausstrahlung, diese Blicke, ganz gleich, wie gut sie unter einer Maske der Frömmigkeit oder Höflichkeit oder gar der Vorahnung des Todes verborgen waren. Sie hatte die Gesichter von Männern beobachtet, die nie eine Frau erkannt hatten, wenn sie ihren letzten Atemzug taten und sie anschauten; selbst dann noch hatte sie ein Gespenst ihres Verlangens
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