Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Es wird nie an Köpfen und an Spießen mangeln. Aber sie sind die Hilflosen. Sie sind diejenigen, die ihre Seelen an Götzen verpfändet haben, die sie selbst erfunden haben. Aber wir müssen uns von ihrem Wahnsinn nicht anstecken lassen. Wir können ihre Schrecken zu uns hereinbitten oder auch nicht. Wir können leben, wie Mutter Natur es beabsichtigt hat, wo immer wir sind, weil wir hier sind: du und dein Kind und Amparo und was noch von dieser alten Teufelsgespielin übrig ist.«
»Meine Schuhe sind durchtränkt von dem Blut, das sie vergossen haben. Darüber kann man nicht so leicht hinwegsehen.«
»Dieses geringe Mädchen hat dir auch nicht gesagt, dass du darüber hinwegsehen sollst, noch viel weniger, dass irgendetwas leicht ist. Aber wir können den Dingen Aufmerksamkeit schenken, die mehr aus uns machen, nicht weniger.«
»Euer Sohn hat …« Carla biss sich auf die Zunge.
»Mein Sohn hat mein altes Herz schon unzählige Male gebrochen. Das tun Söhne, wir Mütter können nur mitzählen, wie oft. Sie sind Männer. Sie sind Ungeheuer, selbst diejenigen, die vor anderen – und besonders vor sich selbst – als die Krone der Schöpfunggelten. Doch wir können ihnen das nicht vorwerfen, genauso wenig wie wir dem Regen vorwerfen können, dass er nass ist. Sie fürchten sich vor dem Leben, wenn auch nicht vor dem Tod, denn sie wissen tief drinnen, dass sie das Leben niemals zähmen können, wie sehr sie es auch versuchen. Also erfinden sie ihre seltsamen Geschichten – dafür sollten wir ihnen wenigstens Respekt zollen – und sagen: ›So sollte die Welt sein.‹ Und machen sich auf, die Welt, wie sie sein sollte, zu beherrschen, anstatt in der Welt ohne Makel zu leben, die es bereits gibt. So führen sie ständig Krieg gegen andere, gegen sich, gegen das Leben selbst. Sie nennen ihr zum Scheitern verdammtes Hirngespinst ›Zivilisation‹. Paris ist die Mitte dieser Zivilisation, behaupten sie, und das unterstreicht das Argument besser, als diese alte Hexe es je könnte.«
»Ich habe einen Sohn.«
Alice sagte nichts dazu. Carla schaute auf den Tisch. Orlandu hatte ihr in seiner reinsten Unschuld und ohne die Wahl zu haben, das Herz gebrochen, ehe er wusste, dass sie eines hatte. Und er hatte es erneut gebrochen, als er sich nach Paris aufgemacht hatte; und als er Mattias überredet hatte, ihm beizubringen, wie man mit einem Messer kämpft; und …
»Und ich trage einen Sohn unter dem Herzen.«
»Die Möglichkeit besteht immer. Wir werden sehen. Wie viel bedeutet es dir?«
»Gar nichts, natürlich nicht. Junge oder Mädchen, es ist mein Kind.«
»Manchen bedeutet es sehr viel. Frauen lassen sich auch in diese Märchen hineinziehen.«
Alice drückte Carla noch einmal fest die Hand und zog sie dann zurück. Carla verspürte einen ungeheuren Verlust. Alice legte ihre Handflächen auf die Tischplatte und lehnte sich vor, um sich hochzustemmen.
»Das Wasser im Kessel ist noch heiß. Wir waschen das Blut im Nu ab.«
»Nein, geht nicht fort, Madame, bitte bleibt. Ich bin schon früher in Blut gewatet, es ist mir einerlei. Ihr habt recht, ich weiß, dass Ihr recht habt. Wirklich. Bitte lasst mich wieder Eure Hand halten.«
Carla hielt Alices Hand und schaute in den langen, harten Winter in ihren Augen.
»Ihr habt so wenig und gebt so viel.«
»Keine solchen Reden, bitte, wenn es recht ist. Wir führen keinen Marktstand, obwohl wir das könnten. Das Haus ist mit Plunder bis obenhin vollgestopft.«
»Ich wollte Euch nicht beleidigen. Ich wollte nur …«
»Wir wissen, was du wolltest, Liebes, und wir sind nicht beleidigt.« Sie bewegte die Schulter im Kreis. »Und was das betrifft, was du unter ›haben‹ verstehst, so ›hast‹ du weniger als wenig. Die Dinge, die du zurückgelassen hast, sind sicher nicht hier und kommen vielleicht nie wieder. Warum also auf sie bauen?«
»Ich baue nicht auf sie. Sonst würde ich, glaube ich, nicht mehr leben und wäre nicht hier.«
»Gut gesprochen, Mädchen. Was man nicht mit sich tragen kann, lohnt es nicht zu haben. Das ist mein Credo.«
Carla lächelte. Vor ihrem inneren Auge sah sie Orlandu, so zerlumpt, wie er ihr das erste Mal begegnet war. Mattias, wie er um Mitternacht vom Deck einer Galeere aus sein Lebenswerk in Flammen aufgehen sah. Sich selbst, nicht an einem bestimmten Ort oder Zeitpunkt, sondern an vielen – vielleicht in den einzigen Augenblicken, in denen sie ganz sie selbst war – und mit nichts von Wert außer dem, den sie in sich
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