Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
Vom Netzwerk:
hervorgekrochen sind, jawohl, und alle ihre Kirchen und Paläste dazu, wie mächtig sie auch sein mögen. Und jetzt sollen diese Scheißkerle kommen und mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen.«
    Wieder lachten die beiden.
    »Ich kann Euch nicht widerlegen, also werden sie uns wohl beide verbrennen müssen.«
    Carla legte sich beide Hände auf den Bauch, weil etwas sie zwickte.
    Aber es war keine echte Wehe.
    »Verzeihung«, sagte Alice. »Dieser alten Frau fehlt die gute Gesellschaft. Aber alles, was sie sagt, kannst du glauben oder nicht, wie du willst.«
    »Ich glaube es gern. Mir fehlt auch die gute Gesellschaft.«
    »Ich denke, dir fehlt sie vielleicht nicht.« Alice lehnte den Kopf zurück und blinzelte. »Wer ist dein Engel?«
    Carla antwortete ohne Zögern, obwohl sie sich nicht sicher war, was die Frage zu bedeuten hatte.
    »Amparo ist mein Engel.«
    »Ihr Wesen leuchtet gleich hinter dir. Bleich wie das Morgengrauen. Und genauso furchtlos.«
    »Das ist Amparo, ja.«
    Carla spürte Tränen aufsteigen. Sie blinzelte sie fort. Sie drehte sich um. Sie sah nichts. Ihr Verstand weigerte sich, Alice zu glauben, aber in ihrem Herzen vertraute sie ihr. Sie wandte sich wieder um, und Alice sah, dass sie ihr glaubte.
    »Du hast Glück, einen solchen Schutzengel zu haben, besonders für die Arbeit, die vor dir liegt.«
    »Sie war meine liebste Freundin. Sie …«
    »Amparo weiß all das und du auch. Dieses alte Mädchen hier braucht es nicht zu wissen. Es ist nur gut, dass wir begreifen, dass sie hier ist.«
    »Danke, dass Ihr mich darauf hingewiesen habt. Und es ist gut so, sehr gut.«
    Alice rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, um ihre steifen Gliedmaßen zu lockern. Sie faltete die Hände.
    »Lass uns eine Weile ganz still sein, damit Amparo weiß, dass wir uns über ihre Gegenwart freuen.«
    Carla schloss die Augen und ließ zu, dass Amparos Geist sie erfüllte. Sie erinnerte sich an die goldenen Tage, die sie miteinander verbracht hatten. Man hätte sich kaum ein ungleicheres Paar vorstellen können, und doch, was für herrliche Musik hatten sie miteinander gemacht! Seltsame Pfade, wie Mattias es einmal formuliert hatte, seltsame Pfade hatten Amparo und sie zusammengebracht; und sie und Mattias auch; genauso wie seltsame Pfade sie hierher und an diesen Tisch gebracht hatten. Gewöhnlich hätte sie sich gefragt, was hier vorging ; und die Fragen hätten schon von Anfang an jede sinnvolle Antwort ausgeschlossen. Sie fühlte sich wie zu Hause. Sie wusste nicht, warum. Sie hatte sich noch nie irgendwo so zu Hause gefühlt: gewiss nicht in dem finsteren Mausoleum, in dem ihre Eltern sie aufgezogen hatten, nicht in dem Haus, in dem sie über zwanzig Jahre gelebt hatte. Sie hatte nur in wenigen Augenblicken so empfunden: wenn sie in die unendliche Weite der Musik entführt wurde; auf dem Rücken eines Pferdes; in all dem Leiden und Chaos im Krankenhaus in Malta. In Mattias’ Armen. Und doch fühlte sie sich in dieser jämmerlichen Bruchbude zu Hause.
    Trauer übermannte Carla. Salzige Tränen rollten ihr über das Gesicht.
    »Es tut mir leid, Madame.«
    »Lass die Tränen kommen, Liebes.«
    »Ich bin ganz verwirrt.«
    Alice streckte die Hand über den Tisch, und Carla ergriff sie. Die Hand war kühl, und doch strömte durch diese Berührung die Wärme einer ungeheuren Liebe.
    »Mattias wird vermisst, Orlandu wird vermisst. Die Kinder, die ich gestern zur Nacht geküsst habe, wurden dahingemetzelt, während ich ihre Schreie mit anhörte. Und nichts getan habe, um ihnen zu helfen. Überall nichts als Wahnsinn, Grausamkeit, Mord, Gier …«
    »Hier nicht, Liebes.«
    Carla musste unwillkürlich zur Tür und zum Gelage im Hof unten schauen.
    »Lass ihnen ihr Vergnügen«, sagte Alice.
    »Sie vergnügen sich mit Trophäen, die sie einem Mann von der Haut geschnitten haben.«
    »Und eines Tages wird der Kopf meines Sohnes an der Stadtmauer auf einem Spieß stecken.«
    »Unrecht und Unrecht hebt sich nicht auf.«
    »Das hat diese Frau nicht gesagt. Sie hat nur darauf hingewiesen, ganz in deinem Sinn, dass die Barbarei und Verderbtheit im Reich der Menschen nur Bilder auf der einen Seite der Medaille sind.«
    »Aber warum? Es ist doch mehr als genug für alle da.«
    »Vertraue nicht auf die Politik, Liebes. Suche keine Antworten, wo du keine finden kannst.«
    »Dann sind wir völlig hilflos?«
    »Keineswegs. Wir können ihre Untaten nicht verhindern, noch viel weniger rächen. Sie sind ohnehin selbst genug damit beschäftigt.

Weitere Kostenlose Bücher