Die Botschaft Der Novizin
»Ich dachte schon, du hast mich zurückgelassen.«
»Reicht mir das Kind durch den Spalt!«, drängte Isabella. Ein Krachen von unten war zu hören. Gleich würde ein Poltern von Füßen auf der hölzernen Stiege folgen.
Sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn ein glucksendes Bündel erschien zwischen Kamin und Abmauerung. Sie nahm es entgegen, blickte kurz in die hellwachen Augen des Mädchens, küsste es auf den Mund und legte es vorsichtig zur Seite. »Und jetzt Ihr!«
Ein heiseres Lachen antwortete ihrer Aufforderung, darauf folgten ein Stöhnen und Schaben. Doch Suor Anna tauchte nicht auf.
»Der Spalt ist zu schmal!«, rief die Nonne mit deutlicher Panik in der Stimme. Hinter ihr wurden bereits die ersten Stimmen laut.
»Ihr müsst es versuchen!«, drängte Isabella. »Um Eurer Tochter willen!«
Eine ganze Zeit geschah nichts, dann erschien ein Arm im Spalt. Isabella zögerte nicht lange. Sie packte den Arm und zog. »Nicht so kräftig«, protestierte die Nonne. »Ich muss jede Hautfalte einzeln hinüberdrücken!«
Isabella hätte beinahe laut gelacht. Endlich erschienen Kopf und Oberkörper. Es ähnelte einer Geburt, wie Suor Anna aus dem Spalt austrat, viel zu groß für die schmale Öffnung, verdrückt, verschrammt und rot im Gesicht, die Arme zerkratzt und ihre Kutte zerrissen. Endlich hatte sie es geschafft und stolperte auf den Nachbarboden hinaus. »Gott sei Dank!«, lächelte Isabella sie an, und selbst die kleine Francesca schien sich über das Erscheinen ihrer Mutter zu freuen. Sie lag auf dem Rücken undstrampelte und schlug mit den Ärmchen. Suor Anna musste mehrmals schlucken, bevor sie antworten konnte.
»Ich werde es dir nicht vergessen, Isabella!« Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schmutz aus den Augen und nahm das Kind auf den Arm.
»Wir müssen weiter«, drängte Isabella. »Wenn die Kerle bemerken, dass wir ihnen entfleucht sind, werden sie toben!«
»Wo sollen wir hin?« Suor Anna wirkte ein wenig ratlos.
»Wir werden sehen. Ich kenne durchaus Orte, an denen wir unterschlüpfen können«, sagte Isabella ernst.
Nur kurz drehte sie sich um und horchte auf den betrunkenen Lärm, das Schreien und Fluchen, als die Soldaten auf den Söller polterten und verblüfft innehielten, da sie den Raum leer fanden.
Sie waren ihnen um Haaresbreite entkommen. Würde sie in eine solche Welt tatsächlich jemals zurückwollen?
KAPITEL 47 Padre Antonio saß Signora Artella im Amtszimmer der Äbtissin direkt gegenüber. Ein schwarzer Lederstuhl mit hoch aufragender Lehne und einem hölzernen Gepränge über den Holmen verlieh ihrer Haltung eine herrische Würde. Ihre Augen blickten unnachgiebig und starr.
Der Pater und die Priorin sahen sich an und schwiegen. Zwischen ihnen lag die Platte des schweren Schreibtisches wie ein ganzer Kontinent, der unüberwindlich erschien. Signora Artella hatte beide Hände auf den Tisch gelegt; die Handflächen zeigten nach unten.
»Homo videt in facie, Deus autem in corde« , sagte sie überraschend, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Der Mensch schaut in das Gesicht, Gott aber ins Herz«, wiederholte der Pater. »Ein schöner Satz des heiligen Benedikt, doch ist er keine Antwort auf meine Fragen.« Nach dem Besuch beim Bibliothekar hatte Padre Antonio beschlossen, seine Taktikzu ändern. Keine heimliche Sucherei mehr, keine nächtlichen Ausflüge, keine Geheimnisse. Er wollte die Äbtissin aufsuchen, doch teilte man ihm mit, dass diese sich nach Torcello begeben habe. Signora Artella, die zwischenzeitlich die Amtsgeschäfte führte, hatte ihn in das Zimmer der Äbtissin gebeten. Der schmucklos ausgestattete Raum wirkte kahl, was der frostigen Atmosphäre entsprach, die entstanden war, als er die Fragen gestellt hatte, die ihm am meisten am Herzen gelegen hatten.
»Wo ist die Educanda Isabella? Was wisst Ihr über die Ermordung der Novizin Julia Contarini? Was ist mit Suor Immaco - lata?«
Signora Artella machte nicht den Eindruck, als wäre sie bereit, auch nur eine der Fragen zu beantworten. Ihr Blick ruhte auf ihm, als suche sie in seinem Inneren die Seele und begutachte sie auf ihre hellen und dunklen Seiten hin. Padre Antonio jedoch dachte gar nicht daran, aufzugeben und sich von der Priorin abwimmeln zu lassen.
»Ihr verschwendet Eure Zeit, Pater«, hatte sie gesagt, als die große Glocke von San Lorenzo die achte Stunde verkündet hatte. Jetzt schlug es zur Non. Eine ganze Stunde saßen sie bereits hier und hatten allerhöchstens
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