Die Botschaft Der Novizin
Treppenhaus hinab. Unter ihren Füßen knarzten die Bretter, als müssten sie die langen Jahre ihres undankbaren Dienstes beklagen. Jetzt erst wurde Isabella bewusst, dass diese Stadt, die Serenissima Venedig, einer ständigen Bewegung unterworfen war. Nicht nur das Meer hob und senkte sich im Rhythmus der Gezeiten, auch die Gebäude sanken in den Untergrund ein, langsam zwar, doch stetig. Das Holz arbeitete und verzog sich, wenn Luftfeuchtigkeit und Sonne darauf einwirkten. Selbst die Menschen strömten aus und ein, stiegen auf und ab in diesem Gewirr an Gassen, die Venedig durchzogen wie Adern den menschlichen Körper. Es war ein Pulsschlag, der in der Lagunenstadt zu spüren war, ein Atmen – und während sie abwärtseilte, stets darauf bedacht, so wenig wie möglich an Bewegung in dem für sie fremden Gebäude auszulösen, begriff sie, dass diese Stadt ein Lebewesen war, ein unförmiges Tier, ein Leviathan, der sterben würde, wenn dieses Atmen einschliefe.
Sie erreichten unbehelligt das Erdgeschoss. Die Tür war nur durch einen einfachen Riegel verschlossen, der sich leicht zurückschieben ließ. Wie würde sich der Besitzer wundern, wenn er feststellte, dass seine Haustür offen war! Doch Isabella hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie mussten das Haus verlassen, bevor die Horde der Galeotti hinter ihnen herkam.
Isabella streckte den Kopf durch den Türspalt hinaus. Niemand war zu sehen. Das Wasser schwappte friedlich und mit steter Gleichmäßigkeit gegen die fondamenta . Eine Lastengondel zog an ihnen vorüber. Kurz überlegte Isabella, ob sie nicht auf die Ladefläche springen sollte, doch dann siegte die Vernunft. Noch auffälliger und spektakulärer hätte sie nicht auf ihren Abgang aufmerksam machen können. Außerdem wäre ihr Suor Anna sicherlich nicht gefolgt.
Sie zog den Kopf zurück, nickte Suor Anna zu und schlüpfte aus dem Haus. Die Nonne folgte ihr, das Kind auf der Schulter. »Wohin willst du?«, fragte Suor Anna. Doch Isabella bedeutete ihr nur kurz, still zu sein, und hastete weiter. Mindestens zwei Gassen und zwei Brücken mussten sie hinter sich bringen, um ruhig miteinander reden zu können. Sie waren noch nicht über den Rio di San Polo hinaus, als ein Pfiff ihre Aufmerksamkeit forderte. Er kam vom Wasser her, doch Isabella konnte niemanden sehen. »Achte nicht darauf!«, schärfte sie ihrer Freundin ein, doch Suor Anna lief zurück und spähte von der Brücke den Kanal entlang.
»Isabella!«, rief sie und winkte. »Es ist Marcello! Ich wusste, dass er zurückkommen würde.«
Isabella hielt inne. Nicht dass sie Marcello ungern gesehen hätte, doch sein Erscheinen lief ihren Plänen zuwider. Dennoch konnte sie seine Hilfe nicht zurückweisen. Womöglich würden die Galeerenruderer sie doch noch stellen, und da war es besser, einen Mann an ihrer Seite zu haben.
Sie stiegen zur Anlegestelle an der Brücke hinunter. Vier glitschige, mit grünlichen Algen bewachsene Stufen führten zumWasser hinab. Dort harrten sie aus, bis die Gondel angelegt hatte. Das Boot schwankte, doch die beiden Frauen wären nicht Venezianerinnen gewesen, wenn ihnen das Schaukeln etwas ausgemacht hätte.
»Isabella!«, begrüßte Marcello sie und schloss sie in seine Arme. Isabella ließ es geschehen, ohne ihn in seinem Gefühlsüberschwang allzu sehr zu ermutigen. Unwillkürlich verglich sie Marcellos burschikose Umarmung mit der unbeholfenen Begierde Padre Antonios.
»Wir müssen zurück ins Kloster!«, bestimmte Isabella, nachdem Marcello sie losgelassen hatte.
»Dein Vater hat zwei Tage vergeblich im Besucherzimmer auf dich gewartet, Isabella. Nachdem Julia Contarinis Tod bekannt geworden war, wurde er unruhig. Er versuchte, die Äbtissin zu treffen, und wollte sich nach dir erkundigen, doch man sagte ihm, sie sei nach Torcello gefahren, und niemand konnte ihm sagen, wo du abgeblieben warst.«
Kühl betrachtete sie ihren Verehrer. »Vater hat mich gegen meinen Willen in dieses Kloster gesteckt – und jetzt wachsen ihm graue Haare deswegen? Lächerlich!« Mit dem Kopf deutete sie über ihre Schulter auf Suor Anna. »Sie muss mit ihrem Kind an einen Ort, wo man es versorgen kann!«
Marcellos Augen weiteten sich. »Mit ihrem Kind? Es ist ihr Kind?«
»Frag nicht lange, bring uns nach San Lorenzo. Galeerenruderer haben die Stadt überschwemmt und wollen ... « Den Rest des Satzes verschluckte sie, doch Marcello verstand sofort. Er schickte die beiden Frauen unter die Felze, damit sie von den Gassen
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