Die Botschaft des Feuers
die einen anzuspringen schienen. Aus dem linken Türflügel stürzte jedem, der sich dem Eingang näherte, ein Adler entgegen, aus dem rechten eine wütende Bärin, die sich auf die Hinterbeine erhoben hatte.
Zwar waren die Schnitzereien inzwischen ziemlich verwittert, aber mit den Glasaugen und den echten Klauen und Krallen wirkten die Tiere immer noch ziemlich realistisch. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war alle Welt fasziniert von raffinierten Erfindungen, und eine Vorrichtung an unserer Tür war wirklich eine Überraschung: Wenn man die Tatze der Bärin herunterdrückte, klappte ihr Maul auf und entblößte ihre furchteinflößenden echten Zähne. Wenn man dann den Mut aufbrachte, der Bestie ins Maul zu fassen, konnte man an der altmodischen Klingel drehen, um seine Ankunft anzukündigen.
Ich tat beides und wartete, aber nichts rührte sich. Auf jeden Fall musste jemand im Haus gewesen sein, denn es stieg ja Rauch aus dem Kamin. Und aus eigener Erfahrung wusste ich, dass es beinahe übermenschliche Kraft kostete, das Holz ins Haus zu schleppen, und es dann Stunden brauchte, das
Feuer in Gang zu bekommen. Andererseits konnte in dem Kamin, der groß genug war, um Meterstücke Holz aufzunehmen, schon vor Tagen ein Feuer angezündet worden sein, das noch immer brannte.
Plötzlich dämmerte mir, in welcher Situation ich mich befand: Ich hatte per Flugzeug und Mietwagen mehrere Tausend Kilometer zurückgelegt und stand jetzt auf einem verschneiten Berg vor meinem Elternhaus und wollte wissen, ob jemand drinnen war. Aber ich hatte keinen Schlüssel.
Die Alternative - durch den tiefen Schnee von Fenster zu Fenster zu stapfen, um einen Blick ins Haus zu werfen - erschien mir nicht sehr verlockend. Was würde ich tun, wenn meine Kleider noch nasser wurden, als sie ohnehin schon waren, und ich dann doch nicht ins Haus kam? Und was war, wenn es mir gelang, hineinzukommen, und niemand da war? Es waren nirgendwo Spuren zu sehen, weder von Reifen noch von Skiern, nicht einmal von Wild.
Also tat ich das einzig Vernünftige, das mir einfiel: Ich nahm mein Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer meiner Mutter - direkt vor ihrer Haustür. Erleichtert atmete ich auf, als nach dem sechsten Klingeln der Anrufbeantworter ansprang und ich hoffen konnte, dass sie mir einen Hinweis darauf gab, wo ich sie finden konnte. Aber als die Ansage kam, wurde ich enttäuscht.
»Ich bin erreichbar unter …« Dann ratterte sie dieselbe Nummer herunter, die sie auf meinem Anrufbeantworter in Washington hinterlassen hatte - immer noch ohne die letzten Ziffern! Halb durchnässt und durchgefroren stand ich wutschnaubend vor der verschlossenen Tür. Wohin sollte ich mich wenden?
Dann fiel mir das Spiel wieder ein.
Mein Lieblingsonkel Slawa war weltbekannt als der Technokrat
und Autor Ladislaus Nim. Während meiner Kindheit war er mein bester Freund gewesen, und auch wenn ich ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, war ich mir sicher, dass er das immer noch war. Slawa konnte Telefone nicht ausstehen und hatte geschworen, nie eins im Haus zu haben. Also kein Telefon - aber Onkel Slawa liebte Rätsel. Er hatte mehrere Bücher zu dem Thema geschrieben. Wenn früher jemand eine Nachricht von Slawa bekommen hatte, die eine vermeintliche Telefonnummer enthielt, war immer klar gewesen, dass es sich in Wahrheit um eine verschlüsselte Botschaft handelte. An solchen Spielen hatte er seine Freude.
Andererseits kam es mir ziemlich unwahrscheinlich vor, dass meine Mutter eine derartige Methode wählen würde, um mir eine Nachricht zu übermitteln. Erstens war sie nicht gerade geschickt darin, Nachrichten dieser Art zu entschlüsseln, und selbst wenn es um ihr Leben ginge, wäre sie nicht in der Lage, ein Rätsel zu erfinden.
Noch unwahrscheinlicher schien mir, dass Slawa die Botschaft für sie verschlüsselt hatte. Soweit ich wusste, hatte sie schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu meinem Onkel, nicht seit … der Sache, über die wir nicht sprachen.
Und dennoch war ich mittlerweile davon überzeugt, dass es sich bei der unvollständigen Telefonnummer um eine Botschaft handelte.
Ich stieg wieder in den Landrover und schaltete den Motor ein. Ein Rätsel zu lösen, um meine Mutter ausfindig zu machen, war auf jeden Fall wesentlich unterhaltsamer als die Alternativen: in ein leeres Haus einzubrechen oder nach Washington zurückzufliegen, ohne je erfahren zu haben, was mit ihr passiert war.
Noch einmal rief ich bei ihr an und
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