Die Botschaft des Feuers
Sobald wir über US-Gewässern wären, würden wir Kotzebue in Alaska ansteuern, um für unseren Flug mit meinem Vater nach Anchorage aufzutanken.
Die Dämmerung setzte schnell ein um diese Jahreszeit. Wir saßen auf dem Deck des Trawlers um einen Grill herum, den Keys Kollegen für uns aufgebaut hatten. Wir tranken Kwas, rösteten Kartoffeln und brieten Stücke von mariniertem Rentierfleisch über der Glut, das Standardgericht in diesen Breiten. Mein Vater hatte seinen Arm eng um meine Schulter gelegt. Er sah mich von Zeit zu Zeit an, als wollte er sich vergewissern, dass ich noch da war - so als fürchtete er, ich könnte wie ein Vogel einfach in den Nachthimmel entschwinden.
Mit ihren hohen Wangenknochen, dem graublonden Haar, das im Schein des Feuers silbrig schimmerte, und ihrem Kleid aus besticktem, mit Fransen besetztem Rentierleder wirkte
meine wunderschöne Großmutter Tatjana exotisch und alterslos. Da sie sich nur in gebrochenem Englisch mit einem starken slawischen Akzent mit uns verständigen konnte, erbot sich Wartan, für uns zu übersetzen, wenn es zu schwierig für sie wurde. Und sie begann zu berichten, worauf wir so lange gewartet hatten.
»Eines Abends im Herbst 1953 wurde ich auf der Krim gefangengenommen und mit einem Schiff in einen Gulag verschleppt. Es war absolut unvorstellbar - viele kamen auf diesen Schiffen ums Leben, aus Mangel an Wasser und Lebensmitteln oder vor Hitze -, und wäre damals Winter gewesen, wäre ich erfroren wie Tausende andere. Insgesamt sind in den Zwangsarbeitslagern mehrere zehn Millionen Menschen umgekommen.
Ich weiß nicht, wie lange ich im Gulag war, Abfälle gegessen und schmutziges Wasser getrunken habe, wie lange ich im Permafrost im Straßenbau geschuftet habe, bis mir die Hände bluteten. Vielleicht ein knappes Jahr. Aber ich hatte Glück, denn meine Flucht wurde erkauft. Und ich sollte noch mehr Glück haben - denn obwohl man unter der einheimischen Bevölkerung in Kamtschatka in der Vergangenheit wiederholt Blutbäder angerichtet hatte, wenn sie dabei erwischt wurden, dass sie ›politische Gefangene‹ wie mich versteckten, fand ich Schutz bei einem Stamm weiter im Norden, der fast ganz ausgerottet worden war. Die meisten Überlebenden waren Frauen - die Tschuktschen-Schamaninnen. Sie waren es auch, die Sascha das Leben gerettet haben. Der Mann, der unsere Rettung organisiert hat, nennt sich ›Galen March‹.«
Wartan fragte sie irritiert: »Er nennt sich selbst so?«
»Die gälische Schreibweise des Namens ist es ein Akronym für Charlemagne«, erklärte ich und sagte zu Tatjana: »Ich verstehe
das nicht. Wie kann Galen auch dich gerettet haben - vor fünfzig Jahren -, wenn der Mann, den ich kennengelernt habe, höchstens Anfang dreißig ist?«
Tatjana antwortete mir in ihrem gebrochenen Englisch. »Nein, er ist älter. Sein Name ist nicht Charlemagne, und auch nicht Galen March. Ich gebe dir etwas, das alles erklärt.«
Sie langte in ihr Kleid aus Rentierleder und holte ein kleines Päckchen hervor. Sie reichte es Wartan, damit er es an mich weitergab.
»Das hat er für dich geschrieben, die nächste schwarze Dame, und …«
Ich spürte, wie der Arm meines Vaters, den er um mich gelegt hatte, sich anspannte und regelrecht zu zittern begann, als er ihr ins Wort fiel. »Was willst du damit sagen?«
Tatjana schüttelte den Kopf und sprach hastig zu Wartan in dieser Sprache, die ich nicht kannte - wahrscheinlich Ukrainisch. Kurz darauf nickte er, aber als er mich dann anschaute, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
»Tatjana besteht darauf, dass ich dir Folgendes erkläre, Xie«, sagte Wartan. »Es ist sehr wichtig für uns alle, dass wir uns hier und jetzt den Inhalt von Galen Marchs Päckchen ansehen - vor allem für dich und für mich. Sie sagt, Galen March ist der weiße König, wird es aber nicht mehr lange sein - anscheinend hofft er, mich an seine Stelle setzen zu können. Aber der Haken an der Sache ist, weshalb er die Position aufgeben will. Er kann die Mission nämlich gar nicht zu Ende führen, sagt sie - das können nur wir .«
Als Wartan uns drei ansah, wirkte er völlig verwirrt. Dann wandte er sich an meinen Vater. »Vielleicht wird das für Sie einen Sinn ergeben, Sir, wenn Sie Ihr Gedächtnis wieder vollständig zurückerlangt haben«, sagte er. »Aber Ihre Mutter sagt,
dass der Mann, um den es hier geht, also Galen March, Ihr Vorfahre ist. Er ist der Sohn von Minnie Renselaas, der Nonne namens Mireille. Und sein
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