Die Botschaft des Feuers
Die Wahrheit war …
Nein. Halt.
Die Wahrheit war, ich brauchte die Wahrheit nicht. Eine solche Selbstfindungsarie konnte ich mir im Moment nicht leisten. Ich versuchte, den Adrenalinschub zu unterdrücken, der sich regelmäßig einstellte, sobald ich auch nur den flüchtigsten Blick in meine Vergangenheit warf. Die Wahrheit lautete: Mein Vater war tot, und meine Mutter war verschwunden, und eine Schachpartie, die jemand in unserem Flügel aufgebaut hatte, legte den Schluss nahe, dass das alles mit mir zu tun hatte.
Ich wusste, dass dieses tödliche Spiel, das immer noch lauerte wie eine tickende Zeitbombe, weit mehr war als nur eine Anordnung von Schachfiguren. Es war das Spiel. Das letzte Spiel. Das Spiel, das meinen Vater das Leben gekostet hatte.
Was auch immer es zu bedeuten hatte, dass das Spiel auf rätselhafte Weise hier aufgetaucht war - für mich würde es immer mit Schmerz verbunden sein. Wenn ich die Partie damals vor zehn Jahren in Moskau gewonnen hätte, dann wäre ich als Siegerin aus dem russischen Turnier hervorgegangen, dann hätte ich mein Ziel erreicht, ich wäre die jüngste Großmeisterin aller Zeiten gewesen - genau wie mein Vater es sich immer gewünscht hatte. Wie er es von mir erwartet hatte.
Wenn ich gewonnen hätte, wären wir nie für die Endrunde nach Sagorsk gefahren - für dieses Spiel, das wegen der »tragischen Ereignisse« dann nie stattgefunden hatte.
Dass die Partie jetzt in unserem Flügel aufgebaut stand, hatte bestimmt etwas zu bedeuten, ebenso wie die anderen Hinweise, die meine Mutter hinterlassen hatte. Und diese
Bedeutung musste ich entschlüsseln, bevor es jemand anders tat.
Eins jedoch wusste ich mit Sicherheit: Was auch immer hier vor sich ging - es war kein Spiel.
Ich holte tief Luft. Beim Aufstehen stieß ich mir den Kopf an einer der Kupferkasserollen, die über der Feuerstelle hingen. Entnervt riss ich sie vom Haken und knallte sie auf die Anrichte. Dann trat ich an den Flügel, öffnete den Reißverschluss am Sitzkissen auf der Klavierbank, sammelte alle Figuren von den Saiten und stopfte sie zusammen mit dem Schachbrett in die Kissenhülle, zog den Reißverschluss wieder zu und verstaute das unförmige Kissen in der Anrichte. Den Flügeldeckel ließ ich offen stehen, so wie ich es gewohnt war.
Ich nahm die schwarze Dame, die ich beinahe vergessen hatte, vom Billardtisch und legte die schwarze Achterkugel an ihren Platz im Dreieck. Die Pyramide aus bunten Kugeln erinnerte mich an etwas, aber mir wollte einfach nicht einfallen, was es war. Die schwarze Dame fühlte sich irgendwie schwerer an als die anderen Figuren, obwohl der Filz unter ihrem Fuß intakt wirkte. Aber vielleicht bildete ich mir das ja auch nur ein. Als ich den Filz gerade mit dem Daumennagel entfernen wollte, klingelte das Telefon. Da meine Tante Lily samt kläffendem Köter und Chauffeur im Anmarsch war, steckte ich die Figur zusammen mit dem Zettel mit der verschlüsselten Botschaft meiner Mutter in meine Hosentasche und lief zum Schreibtisch. Beim dritten Klingeln hob ich ab.
»Du hast Geheimnisse vor mir«, sagte die geschmeidige Stimme von Nokomis Key, meiner besten Freundin aus Jugendtagen.
Erleichtert atmete ich auf. Obwohl wir seit Jahren nicht miteinander gesprochen hatten, war Key der einzige Mensch, dem ich zutraute, mir aus meinem derzeitigen Dilemma zu helfen. Key war eine Frau, die einfach nichts aus der Ruhe bringen konnte. Sie war schon immer in der Lage gewesen, in Krisensituationen eine geradezu ironische Distanziertheit an den Tag zu legen und Probleme auf raffinierte Weise zu lösen. Ich hoffte, dass ich mich auch diesmal auf ihren Scharfsinn würde verlassen können, und das war auch der Grund, warum ich sie gebeten hatte, Lily herzubringen.
»Wo bist du?«, fragte ich sie. »Hast du meine Nachricht erhalten?«
»Du hast mir nie erzählt, dass du eine Tante hast«, antwortete sie. »Das ist ja eine scharfe Braut! Ich habe sie mit einer Art Hund und stapelweise Designergepäckstücken am Straßenrand aufgelesen, wo sie mit einer Luxuskarosse, bei deren Anblick James Bond vor Neid erblassen würde, in eine Schneewehe gefahren war. Außerdem hatte sie einen jungen ›Begleiter‹ bei sich, der aussieht, als könnte er pro Woche eine Viertelmillion Dollar verdienen, indem er in einem Stringtanga am Lido spazieren geht.«
»Meinst du ihren Chauffeur?«, fragte ich verblüfft.
»Ach, so nennt man solche Jungs heutzutage?« Key musste lachen.
»Ein Gigolo? Das passt
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