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Die Botschaft des Feuers

Die Botschaft des Feuers

Titel: Die Botschaft des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Neville Charlotte Breuer Norbert Moellemann
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Erstes fiel mir auf, dass die schwarze Dame fehlte. Ich drehte mich zum Billardtisch um und sah, dass die Figur sich im Dreieck an der Stelle befand, wo die schwarze Kugel hingehörte.
    Es war, als würde ich in einen Strudel gezogen. Ich spürte den starken Sog des Spiels. Gott, wie sehr hatte es mir gefehlt. Wie hatte ich es bloß geschafft, das Schachspielen aufzugeben? Es war alles andere als eine Droge, wie manche gern behaupteten. Es spendete mir Lebenskraft.
    Die Figuren, die bereits neben dem Brett lagen, spielten keine Rolle mehr, ich konnte anhand dessen, was sich noch auf dem Brett befand, die ganze Partie rekonstruieren. Eine ganze Weile vergaß ich meine verschwundene Mutter, meine Tante Lily, die sich mitsamt Chauffeur und Hund im Schnee verirrt hatte. Ich vergaß, was ich geopfert hatte - was gegen meinen Willen aus meinem Leben geworden war. Ich vergaß alles bis auf das Spiel, das ich vor mir sah - das Spiel, das wie ein dunkles Geheimnis im Inneren des Flügels verborgen war.

    Aber während ich die Züge rekonstruierte und es draußen hell wurde, dämmerte es mir. Ich konnte den Schrecken dieses Spiels nicht aufhalten. Wie sollte ich auch, wo ich es im Lauf der vergangenen zehn Jahre immer und immer wieder in Gedanken durchgespielt hatte?
    Denn ich kannte dieses Spiel ganz genau.
    Es war das Spiel, das meinen Vater getötet hatte.

Die Grube
     
     
     
     
Mozart: Confutatis Maledictus - wie würden Sie das übersetzen?
Salieri: »Dem Feuer des Leids ausgeliefert.«
Mozart: Glauben Sie daran?
Salieri: Woran?
Mozart: An das Feuer, das niemals erlischt, das einen auf ewig
verbrennt.
Salieri: O ja …
    AUS: Amadeus , FILM VON MILOŠ FORMAN
     
     
     
     
    Aus der tiefen Grube der Feuerstelle züngelten die Flammen um das dicke Holzscheit herum wie flüssige Hitze. Ich saß auf dem gemauerten Rand des Kamins und starrte ins Feuer. Wie benommen kämpfte ich gegen die Erinnerungen an.
    Aber wie sollte ich vergessen?
    Ganze zehn Jahre waren inzwischen vergangen, in denen ich geglaubt hatte, es wäre mir gelungen, ein Gefühl zu unterdrücken und zu vergraben, das mich beinahe begraben hätte, ein Gefühl, das mich einen Bruchteil einer Sekunde vor dem Ereignis ergriffen hatte. Das eingefrorene Fragment eines Augenblicks, in dem man nach wie vor glaubt, man hätte sein Leben und seine Zukunft mit all ihren Verheißungen noch vor sich, wenn man sich noch vorstellen kann - wie würde meine Freundin Key es ausdrücken? -, dass »die Welt deine Auster ist«. Und dass sie nie zuschnappen wird.

    Aber dann sieht man die Hand mit der Pistole. Und dann passiert es. Dann ist es vorbei. Und plötzlich gibt es keine Gegenwart mehr, nur die Vergangenheit und die Zukunft, nur noch vorher und nachher. Das war es, worüber wir nie sprachen. Das war es, worüber ich nie nachdachte. Aber jetzt, wo meine Mutter verschwunden war, jetzt, wo sie mir diese mörderische Botschaft im Bauch ihres geliebten Flügels hinterlassen hatte, verstand ich plötzlich ihre unausgesprochenen Worte: Du musst darüber nachdenken.
    Aber meine Frage lautete: Wie denkt man über sein kleines, elfjähriges Ich nach, das in einem fremden, kalten Land auf den kalten, harten Marmorstufen steht? Wie denkt man über sein junges Ich nach, das im steinernen Gemäuer eines russischen Klosters eingesperrt ist, Kilometer außerhalb von Moskau und Tausende von Kilometern von allem und jedem entfernt, was vertraut ist? Wie denkt man über seinen Vater nach, der von einem Scharfschützen erschossen wurde? Von einer Kugel getroffen, die nach der Überzeugung meiner Mutter für mich bestimmt war?
    Wie sollte ich die Erinnerung daran ertragen, wie mein Vater in einer Blutlache lag, die vor meinen entsetzten Augen im schmutzigen russischen Schnee versickerte? Wie sollte ich die Erinnerung daran ertragen, wie mein sterbender Vater auf den Stufen lag, seine behandschuhten Finger noch immer um meine kleine Hand geschlungen?
    In Wahrheit war mein Vater nicht der Einzige gewesen, der an jenem Tag vor zehn Jahren auf den Stufen in Russland sein Leben und seine Zukunft verloren hatte. Die Wahrheit war, auch ich hatte damals meine Zukunft verloren. Im Alter von elf Jahren hatte das Leben mich blind gemacht: Amaurosis Scacchistica - ein Berufsrisiko.
    Und jetzt musste ich mir eingestehen, was diese Wahrheit
wirklich war: Es war nicht der Tod meines Vaters und auch nicht die Angst meiner Mutter gewesen, die mich vor zehn Jahren dazu gebracht hatte, das Spiel aufzugeben.

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