Die Botschaft des Feuers
Exzentrikerin kennen konnte, denn trotz unseres Altersunterschieds hatten wir viele Gemeinsamkeiten. Erstens verdankte ich Lily alles. Sie war es beispielsweise gewesen, die mein Schachtalent entdeckt hatte, als ich erst drei Jahre alt war. Und sie war es auch, die meinen Vater und meinen Onkel davon überzeugt hatte, dass dieses Talent gefördert und entwickelt werden musste - entgegen den erst irritierten und am Ende wütenden Einwänden meiner Mutter.
Diese tiefe Verbindung zu Lily war der Grund, warum mein Telefongespräch mit Key mir so merkwürdig erschien. Obwohl ich meine Tante seit Jahren nicht mehr gesehen hatte - und obwohl sie sich ebenfalls aus der Schachwelt zurückgezogen hatte -, wollte es mir einfach nicht in den Kopf, dass eine Frau, die mir große Schwester, Mentorin und Mutterersatz zugleich gewesen war, sich plötzlich wegen eines scharfen Typs aufführte, als hätte man sie einer Lobotomie unterzogen. Nein, irgendetwas stimmte da nicht. Das passte einfach nicht zu Lily.
Lily Rad hatte sich schon vor langer Zeit den Ruf als die Elizabeth Taylor des Schachs erworben. Mit ihren üppigen
Kurven, ihren teuren Klunkern, Pelzen, Designerautos und einer Liquidität, die ans Obszöne grenzte, hatte Lily Glamour in die Welt des Schachs gebracht und das schwarze Loch sowjetischer Trägheit gefüllt, das in den Siebzigerjahren entstanden war, nachdem Bobby Fischer seine Schachkarriere beendet hatte.
Aber Lily bestand nicht nur aus Extravaganz und Eleganz. Die Leute waren in Scharen zu ihren Schachpartien geströmt, und das nicht nur, um ihr Dekolleté zu bewundern. Vor dreißig Jahren, in ihrer Glanzzeit als Schachspielerin, rühmte sich meine Tante Lily einer Elo-Wertung, welche dem Rang der jüngsten ungarischen Schachgenies, der Polgar-Schwestern, nahekam. Und während zwanzig ihrer besten Jahre hatte Lilys bester Freund und Betreuer, Alexander Solarin - mein Vater -, an ihren brillanten Verteidigungen gefeilt und dafür gesorgt, dass ihr Stern am Schachhimmel weiterhin glänzte.
Nach dem Tod meines Vaters hatte Lily sich wieder unter die Fittiche ihres ehemaligen Schachtrainers und Mentors Mordecai Rad begeben, des brillanten Schachdiagnostikers und Historikers dieser uralten Kunst, der außerdem Lilys Großvater und ihr einziger lebender Verwandter war.
Doch dann, am Morgen ihres fünfzigsten Geburtstags, verlosch ganz plötzlich und unerwartet das Licht an Lilys Schachhimmel.
Am diesem Morgen, so erzählte man sich, war Lily ein bisschen spät dran für eine Verabredung mit ihrem Großvater. Ihr Chauffeur war mit quietschenden Reifen aus der Tiefgarage des Apartmenthauses gefahren, in dem Lily wohnte, und hatte sich ziemlich zügig durch den dichten Berufsverkehr auf den West Side Highway manövriert. Sie hatten gerade die Canal Street überquert, als sie sahen, wie hoch am Himmel das erste Flugzeug in den ersten Turm krachte.
Tausende von Fahrern machten eine Vollbremsung, und der Verkehr auf dem Highway kam zum Stillstand. Alle starrten zu der riesigen schwarzen Rauchwolke hinauf, die sich ausbreitete wie der Flügel eines gigantischen schwarzen Vogels - ein stummes Omen.
Auf dem Rücksitz der Limousine versuchte Lily verzweifelt, irgendeinen Nachrichtensender auf ihrem Fernseher zu finden, aber auf dem Bildschirm war nur Schnee zu sehen. Sie stand kurz davor durchzudrehen.
Ihr Großvater befand sich in der obersten Etage des Turms. Sie waren um neun Uhr in einem Restaurant namens Windows on the World zum Frühstück verabredet. Und Mordecai hatte eine Überraschung für Lily, etwas, das er seiner einzigen Nachfahrin an diesem besonderen Tag, ihrem fünfzigsten Geburtstag, dem 11. September 2001, mitteilen wollte.
In gewisser Weise waren Lily und ich beide Waisenkinder. Wir hatten beide unseren engsten Verwandten verloren, den Menschen, der uns auf dem von uns gewählten Gebiet am weitesten vorangebracht hatte. Ich hatte von Anfang an verstanden, warum Lily wenige Tage nach dem Tod ihres Großvaters ihr weitläufiges Apartment am Central Park aufgegeben hatte, warum sie nur eine einzige Tasche gepackt hatte - wie sie mir später schrieb - und nach England geflogen war. Zwar waren Lily die Briten nicht besonders ans Herz gewachsen, aber da ihre Mutter Engländerin gewesen war, besaß sie die doppelte Staatsbürgerschaft. Sie konnte es in New York einfach nicht mehr aushalten. Seitdem hatte ich kaum ein Wort von ihr gehört. Bis heute.
Aber in diesem Augenblick wurde mir klar, dass die
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