Die Botschaft des Feuers
Person, mit der ich jetzt am dringendsten sprechen musste - vielleicht
die einzige Person, die alle Akteure in unserem Leben kannte, die Einzige, die mir das Verschwinden meiner Mutter und vielleicht sogar die rätselhaften Botschaften erklären konnte, die alle irgendwie mit dem Tod meines Vaters zu tun zu haben schienen -, dass diese Person Lily Rad war.
Ich hörte ein Telefon klingeln.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es nicht das Telefon auf dem Schreibtisch war, sondern mein Handy, das sich in meiner Hosentasche befand. Ich wunderte mich, dass ich in dieser abgelegenen Gegend in Colorado überhaupt Empfang hatte. Außerdem kannten nur sehr wenige Leute meine Nummer.
Ich las den Namen auf dem Display: Rodolfo Boujaron. Mein Chef in Washington. Wahrscheinlich war Rodo soeben in seinem berühmten Restaurant Sutalde eingetroffen und hatte erfahren, dass die Kleine, die eigentlich ihre Nachtschicht dort hätte ableisten müssen, unerwartet das Weite gesucht hatte.
Wenn ich jedoch meinen Chef um Erlaubnis gebeten hätte, dann hätte er mir wahrscheinlich keinen Urlaub gegeben. Rodo war ein Workaholic, wie er im Buche steht, und der Meinung, dass alle anderen das ebenfalls zu sein hatten. Er hielt seine Angestellten rund um die Uhr unter Kontrolle, denn »ein Feuer muss ständig geschürt werden«, wie er gern mit seinem brutalen Akzent verkündete.
Da mir aber nicht gerade der Sinn danach stand, Rodolfos Gezeter über mich ergehen zu lassen, wartete ich, bis das VOICE-MESSAGE-Zeichen auf dem Display erschien, und hörte mir dann seine Nachricht an.
» Bonjour, neskato geldo! «
Rodo war Baske, und der Spitzname, den er mir verpasst hatte, bedeutete so etwas wie »kleine Köhlerin«, eine Anspielung auf meinen Job als diejenige, die das Feuer schüren musste.
» Du schleichst dich also mitten in der Nacht davon, und ich finde heute Morgen Le Cygne an deiner Stelle vor! Ich kann nur hoffen, dass sie kein … aruatza legt. Wie heißt das noch? Kein œuf . Wenn sie Fehler macht, wirst du sie ausbügeln! Du hast deinen Posten ohne Vorankündigung verlassen - für irgendeine boum d’anniversaire , wie Le Cygne mir erzählt hat. Meinetwegen. Aber du MUSST vor Montag wieder hier an den Öfen erscheinen, um das neue Feuer anzufachen. Wie kann man nur so undankbar sein! Ich hoffe, dir ist noch nicht entfallen, warum du diesen Job überhaupt hast - nämlich weil ich dich vor der CIA gerettet habe! «
Ende der Nachricht. Offenbar steigerte sich Rodo mal wieder in eine seiner typischen baskisch-spanisch-französischen Tiraden hinein. Aber wenn man sich erst einmal an Rodos Kauderwelsch gewöhnt hatte, war sein Gequassel gar nicht mehr so absurd, wie es klang:
Mit Le Cygne - der Schwan -, der womöglich in meiner Abwesenheit während der Nachtschicht ein Ei legen würde, war meine lesbische Kollegin Leda gemeint, die sich bereit erklärt hatte, bis zu meiner Rückkehr für mich einzuspringen.
Wenn es darum ging, die riesigen Holzöfen zu befeuern, die das Restaurant Sutalde berühmt gemacht hatten (daher sein baskischer Name, der übersetzt »Feuerstelle« bedeutete), war Leda - so glamourös sie als Selbstdarstellerin wirken konnte - kein Kind von schlechten Eltern. Sie legte sich voll ins Zeug und kannte den Unterschied zwischen heißer Asche und Glut. Und sie übernahm viel lieber freitags meine Nachtschicht, als zur Cocktailstunde oben im Restaurant zu bedienen, wo überdrehte und überbezahlte männliche »K-Street-Lobbyisten« sie hemmungslos anbaggerten.
Was Rodos Kommentar bezüglich meines Mangels an Dankbarkeit anging, so handelte es sich bei der »CIA«, vor der er mich »gerettet« hatte, nicht um die Central Intelligence Agency der US-Regierung, sondern lediglich um das Culinary Institute of America - eine Ausbildungsstätte für Chefköche und die einzige Schule, die ich in meinem Leben abgebrochen habe. Nach der Highschool verbrachte ich sechs nutzlose Monate dort. Als mir nichts einfiel, was ich an einem College hätte studieren können, riet mein Onkel Slawa mir, mich auf das Einzige zu kaprizieren, was ich außer Schach je gelernt hatte - etwas, das er mir höchstpersönlich beigebracht hatte, und das war das Kochen.
Die Atmosphäre am CIA erinnerte mich an ein Trainingslager für Sturmtruppen: endlose Unterrichtsstunden in Buchhaltung und Geschäftsführung, Auswendiglernen von Fachbegriffen - anstatt das Erlernen von Techniken. Nachdem ich die Schule frustriert geschmissen und das
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