Die Bourne-Identität
erinnerte, die jetzt aber schemenhaft Gestalt annahm, mit Dunkelheit ... mit Blitzen von Licht; Explosionen; Nebel; Sturmböen, gefolgt von Stille. Was war das? Wo war es passiert? Warum war da jetzt wieder der Schmerz in seinen Augen? Der grauhaarige Mann drehte sich langsam in seinem Drehsessel herum. Jason blickte weg, ehe der andere sein Gesicht sehen konnte.
»Monsieur scheint unsere ungewöhnliche Telefonzentrale zu gefallen«, sagte Madame Lavier. »Das hebt >Les Classiques< von den anderen Geschäften auf der Rue Saint-Honore ab.«
»Wieso?« fragte Bourne, während sie weiter die Stufen hinaufgingen.
»Wenn eine Kundin >Les Classiques< anruft, meldet sich nicht eine nichtssagende Frauenstimme, sondern ein kultivierter Herr, der über sämtliche Informationen verfügt.«
»Eine nette Geste.«
»Andere Herren finden das auch«, fügte sie hinzu. »Besonders, wenn sie telefonisch Käufe tätigen, bei denen sie auf Vertraulichkeit Wert legen.«
Sie erreichten Jacqueline Laviers geräumiges Büro. Es war der Arbeitsplatz einer effizienten Führungspersönlichkeit. Auf dem Schreibtisch lagen Dutzende von Papieren, die zu verschiedenen Haufen gestapelt waren. An ein Brett waren Aquarellskizzen gepinnt, die in kräftigen Farben gemalt waren und ihre Initialen trugen. Die Wände waren bedeckt mit gerahmten Fotos der Beautiful People, wobei ihre Schönheit nur zu oft von aufgerissenen Mündern oder einem Lächeln entstellt wurde. Die parfümierte Luft drängte ihm den Gedanken auf, daß dies die Höhle einer älter werdenden, auf und ab schreitenden Tigerin war, jederzeit bereit, jeden anzugreifen, der ihren Besitz oder die Erfüllung ihrer Wünsche gefährdete. Aber sie war diszipliniert, und wenn man alles bedachte, eine sehr nützliche Verbindungsperson für Carlos.
Wer war der Mann an der Telefonvermittlung? Wo hatte er ihn gesehen?
Sie wies auf eine Anzahl von Flaschen und bot ihm einen Drink an; er wählte Brandy.
»Setzen Sie sich doch, Monsieur. Ich werde René bitten, uns behilflich zu sein, wenn ich ihn finden kann.«
»Das ist sehr liebenswürdig, aber ich bin sicher, daß alles, was Sie wählen, zufriedenstellend sein wird. Ihr besonderer Geschmack ist hier in diesem Büro zu verspüren. Ich fühle mich wohl damit.«
»Sie sind zu großzügig.«
»Nur wenn es angebracht ist«, sagte Jason, der sich immer noch nicht gesetzt hatte. »Ich würde mir gerne die Fotos ansehen. Ich erkenne da eine ganze Anzahl Bekannte, wenn nicht gar Freunde. Viele dieser Gesichter sind auf den Bahamas nicht unbekannt.«
»Bestimmt nicht«, pflichtete Madame Lavier mit einem Tonfall bei, der erkennen ließ, daß ihr die Reiseziele ihrer reichen Kunden bestens vertraut waren. »Es dauert nicht lange, Monsieur.«
Gewiß nicht, dachte Bourne, als die Teilhaberin von >Les Classiques< aus dem Büro schwebte. Madame Lavier würde nicht zulassen, daß ein müdes, wohlhabendes Opfer sich zu viel Zeit zum Nachdenken ließ. Sie würde mit den teuersten Modellen zurückkommen, die sie so schnell wie möglich zusammenraffte. Wenn es daher in dem Raum etwas gab, das ein Licht auf die Agentin von Carlos - oder auf den Mörder selbst - werfen konnte, mußte er es schnell finden.
Jason warf einen konzentrierten Blick auf die Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen: Rechnungen, Quittungen, unbezahlte Lieferantenrechnungen und Mahnbriefe an Kunden. Ein Adreßbuch war aufgeschlagen, so daß man vier Namen lesen konnte; er trat näher, um mehr erkennen zu können. Bei jeder Eintragung handelte es sich um eine Firma, und ihre Repräsentanten standen in Klammern dahinter, wobei die Positionen der Betreffenden unterstrichen waren. Er überlegte, ob er sich die Firmen und die Personen einprägen sollte. Er war gerade im Begriff, das zu tun, als sein Blick auf den Rand einer Karteikarte fiel, die von dem Telefon fast verdeckt wurde. Und da war noch etwas - kaum zu erkennen: ein Streifen durchsichtiges Klebeband, das am Rand der Karte entlangführte und sie auf der Tischplatte festhielt. Das Klebeband selbst war relativ neu, erst vor kurzem über das Papier geklebt; es war ganz sauber, ohne jegliche Schmutzoder Staubspuren, die darauf hingedeutet hätten, daß es sich schon lange dort befand.
Instinkt.
Bourne griff nach dem Telefon, um es zur Seite zu schieben. In dem Moment klingelte es. Der schrille Klang ließ ihn zusammenzucken. Kaum hatte er den Apparat auf den Tisch zurückgestellt und einen Schritt gemacht, als ein Mann ohne
Weitere Kostenlose Bücher