Die Bourne-Identität
Minuten vor drei Uhr morgens, als Bourne an die Empfangstheke der >Auberge du Coin< trat, während Marie direkt zum Eingang hinsteuerte. Zu Jasons Erleichterung lagen keine Zeitungen auf der Theke, aber der Nachtpförtner, der dahinter saß, war derselbe wie der andere in dem Hotel im Zentrum von Paris; ein untersetzter Mann mit spärlichem Haarwuchs, der sich mit halbgeschlossenen Augen in seinen Sessel zurücklehnte, die Arme über der Brust verschränkt, benommen von der drückenden Schwere dieser endlos scheinenden Nacht. Aber an diese Nacht dachte Bourne, würde er sich wohl noch lange erinnern - weit über den Schaden in dem Zimmer im Obergeschoß hinaus, den man erst am Morgen entdecken würde.
»Ich habe gerade Rouen angerufen«, sagte Jason und stützte sich mit beiden Händen auf die Theke. Er war verärgert und wütend darüber, daß es in seiner persönlichen Welt Dinge gab, die er nicht unter Kontrolle hatte. »Ich muß hier sofort weg und mir einen Wagen mieten.«
»Warum nicht?« knurrte der Mann und erhob sich. »Was würden Sie denn vorziehen, Monsieur? Einen goldenen Streitwagen oder einen fliegenden Teppich?«
»Wie bitte?«
»Wir vermieten hier Zimmer, keine Automobile.«
»Ich muß in aller Herrgottsfrühe in Rouen sein.«
»Unmöglich. Es sei denn, Sie finden ein Taxi, das verrückt genug ist, Sie um diese Stunde dorthin zu bringen.«
»Ich glaube, Sie verstehen mich nicht. Wenn ich bis acht Uhr nicht in meinem Büro bin, ist es eine Katastrophe, ich bin ruiniert. Ich zahle gut ...
»Das ist Ihr Problem, Monsieur.«
»Aber es gibt doch sicherlich jemanden, der bereit wäre, mir seinen Wagen für, sagen wir ... tausend, fünfzehnhundert Franc zu leihen?«
»Tausend ... fünfzehnhundert, Monsieur?« Die halbgeschlossenen Augen des Mannes weiteten sich. Heiser fragte er: »In bar, Monsieur.«
»Natürlich. Meine Begleiterin würde ihn morgen Abend zurückbringen.«
»Das pressiert nicht.«
»Wie bitte? Es gibt natürlich keinen Grund, nicht auch ein Taxi zu mieten. Diskretion muß schließlich bezahlt werden.«
»Ich wußte nicht, wo ich eines erreichen sollte«, unterbrach ihn der Mann erregt. Man sah ihm an, daß er bemüht war, ihn von dieser Absicht abzubringen. »Andererseits, mein Renault ist nicht gerade neu, und vielleicht auch nicht der schnellste, aber er fährt.«
Das Chamäleon hatte wieder seine Farben geändert und war als jemand akzeptiert worden, der es nicht war. Aber er wußte jetzt, wer er war und er begriff.
Der Tag brach an. Aber da war kein warmes Zimmer in einem Dorfgasthof, keine Tapete, auf die das Licht der Morgensonne durchs Fenster seine Muster zeichnete, weich und von den Blättern draußen gefiltert. Vielmehr brachen die ersten Sonnenstrahlen aus dem noch verhangenen Himmel hervor und ließen die Felder und Hügel von Saint-Germain-en-Laye rosarot aufleuchten. Sie saßen in dem kleinen Wagen, den sie am Rand einer Seitenstraße abgestellt hatten, und der Rauch ihrer Zigaretten kräuselte sich durch die halbgeöffneten Fenster.
Er hatte jenen ersten Bericht in der Schweiz mit den Worten begonnen: Mein Leben begann vor sechs Monaten auf einer kleinen Insel im Mittelmeer, die sich Ile de Port Noir nennt ...
Er hatte alles erzählt, nichts ausgelassen, woran er sich erinnern konnte, auch die schrecklichen Bilder nicht, die vor seinen Augen aufgezogen waren, als er die Worte hörte, die Jacqueline Lavier in dem von Kandelabern beleuchteten Restaurant in Argenteuil sprach. Namen, Ereignisse, Städte ... Morde.
»Alles paßt. Es gab nichts, das ich nicht wußte, nichts, das nicht irgendwo in meinem Hirn lauerte und versuchte, Gestalt Einzunehmen. Es war die Wahrheit.«
»Es war die Wahrheit«, wiederholte Marie.
Er sah sie scharf an. »Wir hatten unrecht, begreifst du nicht?«
»Mag sein. Aber wir hatten trotzdem recht. Du und ich.«
»Worin?«
»Was dich betrifft. Ich muß es noch einmal sagen, ruhig und logisch. Du hast mir dein Leben opfern wollen, ehe du mich kanntest; das war nicht die Entscheidung eines Mannes, so wie du ihn mir beschrieben hattest. Wenn es jenen Mann tatsächlich einmal gegeben hat, dann gibt es ihn jetzt nicht mehr.« Maries Augen flehten. Ihre Stimme jedoch blieb ruhig und kontrolliert. »Du hast es selbst gesagt, Jason. >Das, woran ein Mann sich nicht erinnern kann, existiert nicht. Für ihn.< Vielleicht mußt du dem ins Auge sehen. Geh, bitte, geh weg.«
Bourne nickte; der Moment, den er befürchtet hatte, war eingetreten.
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