Die Brandungswelle
gern wissen weshalb.«
Ein Kind, das unter einem Torbogen geboren wurde, da, wo man während der Pestepidemien die Toten stapelte. Wie kann man das ertragen und überleben?
»Ich glaube, die Person, die Théo die Briefe schreibt, ist dieses Kind.«
Er rieb sich die Hände.
»Wenn wir beweisen können, dass der Nachname dieses Kindes Lepage ist, könnten wir daraus schlussfolgern, dass die Person, die Théo schreibt, und das Kind, das Nan adoptiert hat, ein und derselbe sind.«
»Ja.«
Vor uns lag das Haus von Prévert, zwischen Bäumen, von einem Garten umgeben. Wir stützten uns auf den Zaun und blickten auf eine üppige Vegetation, auf Rosenstöcke, blühende Sonnenblumen, Pflanzen mit riesigen Blättern und unaussprechlichen Namen. Ein kleiner Bach floss durch den Garten und unter der kleinen Brücke vor der Haustür.
»Die Pflanzen, die Sie da hinter den hohen Wedeln sehen, das ist Gynerium … Und das da ist Gunnera.«
Ein gepflasterter Weg führte zum Haus. Wir gingen an der Hauswand entlang. Monsieur Anselme überlegte.
Plötzlich sah er mich an.
»Wenn es dieselbe Person ist, muss man noch herausfinden, warum Théo Nan nicht sagt, wo sich derjenige befindet, den sie sucht.«
Er überlegte wieder und sah dabei das Haus an.
»Dass Lili das Foto weggenommen hat, kann man noch verstehen … Wenn es das von Nan adoptierte Kind war. Aber Sie haben Recht, irgendwas ist komisch an dieser Geschichte.«
Ich hatte immer noch das Medaillon in der Tasche. Ich zeigte es ihm.
»Das ist Paul Perack, der Bruder von Lambert. Nan hat sein Foto gestohlen.«
»Armes Kind. Sie sagen, Nan hat das Foto gestohlen?«
Er gab es mir zurück.
»Macht Ihnen der Tod Angst?
»Nicht der Tod … Aber die Vorstellung, alt zu werden. Hässlich
und schmutzig zu werden, nicht mehr allein gehen zu können, ja, das macht mir Angst.«
Ich steckte das Foto wieder in die Tasche. Ich wollte es Lambert so bald wie möglich geben, auch den Bericht vom Bootsunglück.
»Man kann alt werden, sage ich Ihnen, so alt, dass nicht mal mehr die Hunde sich von einem streicheln lassen.«
Monsieur Anselme nickte.
»So gesehen, in der Tat …«
I ch entdeckte Lamberts Schal auf der Bank in seinem Garten. Er hatte ihn wohl dort liegen lassen. Er war zwischen Bank und Hauswand gerutscht. Die Wolle war feucht geworden. Sie roch nach Erde. Sie roch nach Wasser und Sonne. Sie roch nach Lambert und seinem Schweiß. Ein paar Haare hingen in der Wolle. Ich legte den Schal auf die Bank zurück und ging ums Haus herum. Max hatte Recht, der Garten war überwuchert, da war noch viel zu tun.
Zwei Tage vergingen. Der Schal lag immer noch auf der Bank. Am dritten Tag packte ihn der Wind und drückte ihn an die Wand. Die Sonne trocknete ihn. Ich hob ihn auf. Band ihn mir um den Hals.
In der nächsten Nacht regnete es.
Ich erinnere mich an diese Nacht. Die erste Nacht, in der ich aufgehört habe, an dich zu denken.
Weil es ihn gab.
Diese erste Nacht, in der ich von ihm geträumt habe. In der ich mich in einem Traum mit einem anderen verloren habe.
Du hattest gesagt, vergiss mich. Du hast mich schwören lassen, dass ich wieder lieben würde. Mein Mund, im Innern von
deinem. Man muss vergessen, das hast du gesagt, vergessen oder mich vergessen , ich weiß es nicht mehr. Du hast es gesagt, ohne deine Lippen von meinen zu lösen, du hast es in mir versenkt, du musst ohne mich leben, schwöre es mir …
Ich habe es geschworen.
Mit gekreuzten Fingern. Hinter deinem Rücken. Du hast noch gestanden. So groß. Ich habe die Hand auf deine Schulter gelegt.
Wie kann ich lieben nach dir?
A m Morgen war der Strand mit dunklen Algen übersät.
»Wer ist dieser Kerl?«, fragte ich Lili und meinte einen merkwürdigen Mann, der mich auf der Terrasse beiseitegeschubst hatte, als ich angekommen war.
»Ein Hurensohn«, antwortete sie und sortierte dabei weiter ihre Flaschen im Regal.
Sie legte beide Hände flach auf den Tresen.
»Ohne Quatsch, das ist wirklich ein Hurensohn.«
Mehr bekam ich nicht aus ihr heraus.
Es war Sonntag. Die Jugendlichen saßen auf der Terrasse. Sie wollten, dass Lili ein Tischfußballgerät kauft. Es gab keinen Platz dafür, oder man hätte Tische rauswerfen müssen. Oder die Jukebox. Oder die Küche verkleinern, aber die Küche war Lilis Privatbereich, sie wollte nicht, dass man sie anrührte.
»Geht zur Messe, dann habt ihr was zu tun«, sagte sie, als sie sie so untätig herumsitzen sah. »Oder macht was
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