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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Skulptur einer Gestalt angefangen, die der Bachstelze ähnlich sah.
    »Was hältst du davon?«, fragte er und zog mich ins Atelier.
    Der Körper war schmächtig, die Beine unverhältnismäßig lang. Die Bachstelze in ihrem Cape. Raphaël hatte mit den Daumen den Bauch ausgehöhlt, ihn zu einer Leere gemacht. Die Kraft, die von diesem Bauch ausging, ließ alles andere in den Hintergrund treten – den Kopf, die Arme …
    Er setzte sich aufs Sofa und zog die Knie an.
    »Du sagst ja gar nichts?«
    »Nein.«
    Er lächelte.
    »Dann ist es nicht so schlecht …«
    Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Alles, was er brauchte, um eine Skulptur zu schaffen, lag auf dem Fußboden herum, Holz, Gerüste … Er warf nichts weg, er liebte diese Unordnung, er sagte, die Holzreste seien die Spuren seiner Arbeit.
    »Ich nenne sie Die Hungerleiderin .«
    Ich ließ mich neben ihn fallen. Er sah mich an.
    »Wenn ich dich so ansehe, mit deinen Augen, denke ich mir,
dass ich dich auch mal darstellen müsste. Man könnte denken, du bist hergeschwommen!«
    »Auf dem Floß«, korrigierte ich ihn, »mit zwei Rudern.«
    Mein Nacken brannte.
    »Auf die Ruder kommt es an, vor allem, wenn du zwei hast«, sagte ich und legte die Hand ins Genick.
    »Was passiert, wenn du nur eins hast?«
    »Dann fährst du im Kreis, Raph, immer im Kreis.«
    Er rieb die Hände aneinander und legte sie an meinen Nacken.
    »Du bist verspannt«, sagte er.
    Er massierte mich, ein regelmäßiges Hin und Her. Ich versuchte zu widerstehen, aber schließlich schloss ich die Augen. Ich dachte an dich. Dein Lächeln kam zurück. Du hattest gesagt, wir trennen uns an einem ungeraden Tag, aus Spaß hattest du das gesagt …
    »Deine Muskeln sind steinhart.«
    »Sei still …«
    »Hattest du einen Unfall?«
    »Wenn man so will.«
    »Was heißt das, wenn man so will?«
    »Zwei Monate bei den Verrückten rumgehangen.«
    »Als Pflegerin?«
    »Nein, als Patientin.«
    Er hörte auf zu massieren.
    »Du redest Scheiß.«
    »Nein.«
    »Verrückte? Die echten?«
    »Die echten, ja.«
    »Zwangsjacke?«
    »Chemisch, die Zwangsjacke. Mach weiter …«
    Ein Nerv war irgendwo eingeklemmt, das blockierte meinen
Nacken. Der Schmerz lief meinen Arm hinunter bis in die Fingerspitzen, es brannte wie Feuer. Nachts wachte ich davon auf.
    »Und, hast du Gratispillen bekommen, damit du schwebst?«
    »Gratispillen … Einen Riesenhaufen sogar.«
    »Was hat das mit deinem Nacken zu tun?«
    »Keine Ahnung, aber seitdem tut er weh.«
    Er massierte weiter, ohne etwas zu sagen.
    »Du machst das gut«, lobte ich ihn.
    Darüber lachte er. Er zog meinen Kragen wieder zurecht, legte sich hin, verschränkte beide Hände unter dem Kopf und sah mich an. Dann streckte er eine Hand aus.
    »Komm her!«, sagte er. Er unterstrich es mit einer Kopfbewegung.
    »Los …«
    Ich legte mich neben ihn, fünf Zentimeter zwischen seinem Körper und meinem. Sein Arm legte sich um mich.
    »Relax …«
    Es gab keinen Abstand mehr. Mein Kopf war an seinem Hals. Ich hörte sein Herz schlagen. Vielleicht war es auch meins.
    »Raphaël?«
    »Mmm?«
    »Du bist aber nicht verliebt in mich, oder?«
    Ich spürte, wie er lächelte.
    »Nein. Und du?«
    »Ich auch nicht.«
    Er legte die Lippen auf meine Stirn.
    »Dann ist ja alles gut. Kein Grund, dich aufzuregen.«

M onsieur Anselme hatte ein paar Tage in Paris verbracht. Als ich bei Lili ankam, erwartete er mich mit einem Buch über Prévert.
    »Mit größter Vorsicht zu behandeln …«
    Ich blätterte etwas darin, aber ich war mit den Gedanken woanders. Er zeigte mir Briefe, Fotos, eine Prévert gewidmete Zeichnung von Picasso, eine Postkarte von Miró, Prévert mit Janine, Prévert mit André Breton, Prévert in Saint-Paul-de-Vence.
    Er langweilte mich. Plötzlich spürte ich es so deutlich. Ich sah mich mit diesem alternden, besessenen Mann am Tisch sitzen.
    »Das erste Mal habe ich ihn in der Colombe d’Or getroffen … Am selben Tag ist er vollständig angezogen in ein Wasserbecken eingetaucht, das auf der Terrasse stand.«
    »Eine Schale, Monsieur Anselme … Sonst sagen Sie immer Schale.«
    Ich ärgerte mich, weil ich so böse war. Ich wandte den Kopf ab. Lamberts Haus war immer noch verschlossen. Sein Auto stand weder vor dem Haus noch am Hafen. Das Gestrüpp war aus dem Garten verschwunden, aber Max sagte, auf der Rückseite sei noch viel zu tun.
    Das Schild Zu verkaufen hing immer noch am Zaun.

    »Eine Schale, ja, Sie haben Recht … Sie müssen mich

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