Die Brandungswelle
Soziales!«
Darüber lachten die Jugendlichen. Schließlich gingen sie.
Lili drehte sich zu mir um, als suchte sie meine Zustimmung.
»Alte Leute gibt’s hier genug, sie warten doch nur darauf, dass man sie ab und zu besucht.«
Ich sah durchs Fenster.
»Ist er immer noch nicht wiedergekommen?«, fragte ich und zeigte auf Lamberts Haus.
Lili hob den Kopf.
»Nicht gesehen.«
»Hat er dir nichts gesagt?«
»Was soll er mir denn gesagt haben?«
Ich ließ den Vorhang los.
»Weißt du, wohin er gefahren ist?«
»Ich weiß, was ich sehe«, sagte sie, »und ich sehe, dass die Fensterläden zu sind. Ansonsten lebt er sein Leben.«
Ich bemerkte, dass sie ein anderes Foto angepinnt hatte, um das zu ersetzen, auf dem man sie mit dem kleinen Michel sah.
»Wo hast du das Foto hingetan, das vorher dort hing?«
Sie warf einen Blick zur Wand.
»In eine Kiste zu den anderen, warum?«
»Ich würde es gern nochmal sehen.«
Sie zuckte die Schultern.
»Ich muss es suchen.«
Ich bestand nicht darauf.
Dem Ton ihrer Stimme nach war ich sicher, dass sie es nicht suchen würde.
»Théo ist seltsam im Moment«, sagte ich.
»Er war immer seltsam!«
»Ich glaube, es geht ihm nicht sehr gut.«
Sie tauchte die Hände ins Spülbecken. Die sauberen Gläser stellte sie kopfüber auf ein Handtuch. Ein Glas stieß an den Rand des Beckens und zersprang. Sie fluchte. Dabei war es nicht das erste Mal, dass ihr ein Glas kaputt ging.
»Habt ihr euch heute alle vorgenommen, mich fertigzumachen?«
Sie stand eine Weile schimpfend hinter ihrem Tresen.
»Was willst du eigentlich von mir?«, fragte sie plötzlich und sah mich an.
»Nichts …«
»Deine Augen, das ist nicht nichts!«
Ich senkte den Kopf.
»Ist es wegen meinem Vater, wirfst du mir irgendwas vor, dass ich mich nicht genug kümmere?«
»Das wollte ich nicht sagen …«
»Dann sag es nicht, sag gar nichts. Trink deinen Kaffee, füll deine Kästchen aus und dann geh!«
Ich legte die Zeitung zusammen. Sammelte meine Sachen ein.
»Wenn er tot ist, wirst du weinen.«
»Ich werde nicht weinen. Keine Träne, hörst du!«
Sie richtete sich auf, die Müllschippe in der Hand.
»Er hat mir das Leben schwer gemacht und ihr auch, das kannst du dir nicht vorstellen!«
»Das ist lange her.«
»Dass es lange her ist, ändert nichts.«
Sie drehte sich zu ihrer Mutter um.
»Sie hat alles erduldet … Alles! Damit er nicht weggeht. Und ich bin mit einem Vater aufgewachsen, der abends rausgeschlichen ist, um mit einer anderen zu schlafen. Soll ich dir erzählen, wie mein Weihnachten abgelaufen ist? Alle hier wissen es. Meine Mutter hat so viel geweint, das reicht für ihr Leben und für meins auch. Und es macht mich verrückt, dass sie heute noch bereit ist, zu ihm zurückzugehen.«
»Aber schließlich ist sie doch weggegangen«, sagte ich.
»Schließlich, ja, aber sie hat lange gebraucht.«
In der Tiefe ihres Sessels jammerte die Mutter.
»Warum schreit ihr?«
»Wir schreien nicht!«
»Ihr redet vom Alten! Was hat er gemacht, der Alte?«
»Er hat nichts gemacht«, sagte Lili.
Die Mutter schüttelte den Kopf. Ihr kamen die Tränen. Sie mergelten ihr Gesicht aus, die Haut schwoll an, und unter ihren Augen bildeten sich violette Wülste.
Ich sah sie an. Unter der Lampe, so völlig reglos, glich sie einer Toten, die noch atmet.
Die Jugendlichen ließen ihre Mopeds aufheulen. Sie warteten darauf, alt genug für ein Auto zu sein, um weiter weg zu fahren, nach Cherbourg oder Valognes.
Es war jeden Sonntag das Gleiche: Die Nachbarn schimpften über die Mopeds, es waren dieselben, die auch über die Alten schimpften, die zum Pinkeln rauskamen. Die eigentlich über alles schimpften.
Am nächsten Tag war Schule, die Jugendlichen verschwunden, unter der Woche heulte kein Motor.
Raphaël hatte sich im Atelier eingeschlossen und den roten Stein vor die Tür gelegt. Er arbeitete und hörte Callas.
Es war erst später Nachmittag. Noch war es hell. Ich legte mich hin und zog mir die Decke über die Augen. Ich wollte kein Licht mehr sehen. Ich drückte das Kopfkissen auf meinen Bauch. Die Musik kam durch die Dielen und wiegte mich in den Schlaf.
Als ich aufwachte, war es dunkel. Im Atelier brannte noch Licht. Das Licht kam durch die Spalten und zeichnete feine Strahlen an die Decke.
Ich drückte das Gesicht ans Fenster. Das Meer war ruhig.
Es war noch sehr früh am Morgen. Der Hund der Bachstelze wartete auf der Steinschwelle vor dem Haus. Die Stalltür ging zur
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