Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
Tieren bestand, und wenn das Leittier weg war, würden die anderen sich gegenseitig anfallen. Inmitten dieser Wirren würde es Lorenzo ein Leichtes sein, mit Clarice und den anderen zu entkommen. Was stand zwischen ihm und der Durchführung dieser Idee? Die Tatsache, dass es ein kaltblütiger Mord war? Was war das Ende des Kastraten anderes gewesen?
Der Unterschied ist, dachte Lorenzo, dass der Mensch sich entscheiden kann. Der Pferdefuß dabei ist, dass er sich manchmal entscheiden muss. Und dass er dann die Verantwortung auf niemanden schieben kann. Es mochte nötig sein, Corto zu ermorden, aber der Mord würde für alle Zeiten auf Lorenzos Seele lasten. Es war erstaunlich, wie wenig ihn diese Aussicht noch vor drei Jahren berührt hätte. Jetzt aber … Wenn man in einem schmutzigen Haus lebte, machte es einem wenig aus, zu weiterem Schmutz beizutragen. Wenn man das Haus aber einmal sauber gemacht hatte, fing man plötzlich an, die dreckigen Stiefel vor der Haustür auszuziehen.
Lorenzo wurde sich bewusst, dass Corto ihn aus dem Augenwinkel musterte. Sie standen nahe beieinander, er, Corto, der massige Urso und ein Mann, den alle Pio-Pio nannten, weil er auf diese Anrede zuverlässig schnappte: » Nur Pio, wenn ich bitten darf!« Enrico, Giuglielmo, Verruca und noch ein Mann, dessen Namen Lorenzo nicht kannte, waren weiter in den Schilfwald eingedrungen. Corto hatte Lorenzo nicht mitgeteilt, was hinter dem Manöver steckte. Der Wagen mit dem Hauptteil der Männer war ein ganzes Stück weit abseits der holprigen Seitenstraße zurückgeblieben, die sie vor einiger Zeit von der Via Aemilia aus genommen hatten. Lorenzo wusste, dass Corto ihm nicht genug traute, um ihn beim Haupttross zu lassen, wenn er selbst sich davon entfernte. Lorenzo hätte nicht anders gehandelt; dennoch wünschte er sich, dass er wenigstens seine Waffen wiederbekommen hätte.
»Die Blätter sind wie kleine Klingen«, sagte Corto halblaut.
Lorenzo nickte. »Wenn du sie trocknest, wird es noch schlimmer«, erwiderte er. »Bündle trockene Schilfblätter zusammen, und …«
»… deine Hände sehen aus wie rohes Fleisch.« Cortos Blick änderte sich nicht. »Was hast du gebaut?«
»Schilfunterstände. Besser als jede Plane, wenn es regnet. Darunter bleibst du am längsten von allen trocken.« Lorenzo gab dem Blatt, das er gefühlt hatte, einen Schnipp mit dem Finger. »Wenn du auf der Straße gelebt hast, denkst du nach einiger Zeit nur noch daran, wie du dich am besten trocken halten kannst.«
»Ich habe Hausdächer gebaut«, sagte Corto zu Lorenzos Erstaunen. »Eigentlich sollte man sagen, ich habe ein Hausdach gebaut. Das Dach meines Elternhauses war aus Schilf, und jedes Jahr war irgendwas daran undicht. Man muss so ein Dach in einem Schwung machen, dann verrottet das Schilf gleichmäßig und kann komplett ersetzt werden. Mein Vater hatte es aber stückchenweise errichtet, und so vergammelte es nach und nach. Ich musste immer hinauf, weil ich der Leichteste von allen war.«
»Wir haben alle Erinnerungen, die wir nicht loswerden können«, erklärte Lorenzo.
Corto betrachtete die Innenflächen seiner Hände. Er lächelte. »Wer sagt, dass ich diese Erinnerung loswerden will? Unser Haus stand nicht weit vom Po entfernt. Wenn ich den Fluss sehen wollte, musste ich nur ein paar Minuten laufen und war dort.« Er fasste nach einem Blatt und rieb es zwischen den Fingerspitzen. Danach klopfte er mit einem Fingernagel an den dicken Halm. »Es gibt nichts, was man am Schilf nicht brauchen könnte: die Blätter für die Dächer, die Halme zum Pfeifenschnitzen und für Blasrohre, die Wedel zum Feuerentzünden – und außerdem gibt es prima Verstecke für einen kleinen Jungen, der nicht gefunden werden will.«
»Essen kann man’s nicht«, konstatierte Urso, der bislang wenig gesagt hatte und wenn, dann nur im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme.
Corto lächelte. »Zumindest hab ich’s noch nicht probiert«, gestand er.
»Was tun wir hier eigentlich?«, fragte Lorenzo. »Wohin hast du Enrico und die anderen geschickt?«
Corto kratzte sich am Kopf. »Überraschung«, erklärte er. »Nicht nur für dich.« Er zwinkerte Urso und Pio-Pio zu, und die beiden gaben das Zwinkern mit der Miene von Leuten zurück, die sich in der Ahnungslosigkeit wohlfühlen, weil sie überzeugt sind, gut geführt zu werden. »Was ich dir noch sagen wollte: Das mit dem übergeschnappten Mönch hast du gut gemacht.«
»Du hättest genau das Gleiche getan.«
»Und
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