Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
zurück und schlüpfte durch das Schilfrohr. Draußen hatte der Gefesselte angefangen zu schreien und zu flehen. Er zappelte wie ein Fisch. Eine der Zinken der Gabel brach ab. Ihr Träger fluchte und drosch mit dem Rest ein-, zweimal auf den Gefesselten ein, dann machten er und sein Kumpan sich daran, ihn mit Fußtritten in das mittlerweile hoch lodernde und qualmende Feuer zu rollen. Sie lachten jetzt nicht mehr, aber sie kamen auch nicht auf die Idee, einzuhalten. Als Lorenzo sich Corto wieder zuwandte, stand dieser bereits so weit außerhalb des Schilfs, dass die drei Männer ihn hätten sehen müssen, wenn sie von ihrer Tätigkeit aufgeblickt hätten. Sein Bogen war gespannt. Enrico stand neben ihm und zielte mit der Armbrust. Die Entfernung war eigentlich zu groß für die kleine Waffe. Der Kastrat war nur wenig außerhalb dieser Entfernung gewesen, und die Bolzen hatten ihn schon nicht mehr erreicht. Enrico hob die Armbrust noch höher und sagte leise: »Fertig.«
Die Männer neben Lorenzo lagen nicht mehr, sondern kauerten. Sie waren sprungbereit. Was sie an Waffen hatten – Äxte, Katzbalger, lange Messer –, hielten sie in den Händen.
»Das ist Wahnsinn!«, flüsterte Lorenzo.
Corto ließ die Sehne los, Enricos Armbrust knallte im gleichen Augenblick. Die Männer vorn sahen nicht auf. Der Lärm um sie herum hatte die beiden Geräusche unhörbar gemacht. Der Plünderer mit der Armbrust prallte zurück und setzte sich auf den Hosenboden. Der Mann mit dem Rest der zerbrochenen Gabel wirbelte herum und fiel hin. Der übrig gebliebene Plünderer blinzelte seine beiden Kameraden blöde an. Dann machte er plötzlich einen Satz, fiel auf die Knie, kam wieder auf die Beine, taumelte im Kreis und brach endgültig zusammen, Cortos zweiten Pfeil unter sich abbrechend. Lorenzo starrte die drei Leichen an. In seiner Lähmung blitzte ein Gedanke auf, heiß und zornig: JA!
Corto legte den Bogen auf den Boden. Enrico spannte die Armbrust. Sie lauschten einen Augenblick. Der Rhythmus des Plünderungslärms hinter den Häusern änderte sich nicht. Corto gab den Männern hinter sich ein knappes Zeichen. Sie sprangen auf und hasteten über die freie Fläche zu den ersten Häusern, hinter Corto und Enrico her. Als sie sich hinter dem zunächst stehenden Haus zusammendrängten, stellte Lorenzo fest, dass er mitgekommen war. Er blinzelte verwirrt, seine Gefühle ein wirbelndes Knäuel, das sich jeder Festlegung entzog.
»Ich bin waffenlos«, keuchte er.
Corto, der sich die beiden Piken geschnappt hatte, zögerte einen winzigen Moment, dann warf er Lorenzo eine davon zu. Er wandte sich ab und spähte um die Ecke. Klatschen und Gesang drangen zerstückelt zu ihnen. Urso rannte gebückt zu dem Gefesselten und zog ihn ein Stück vom Feuer weg. Die Augen des Geschundenen waren rund und weiß in seinem zerkratzten Gesicht. Urso legte einen Finger auf die Lippen und zwinkerte mit einem Auge, dann riss er dem einen der Getöteten den Katzbalger aus dem Gürtel und nahm die immer noch gespannte Armbrust des anderen an sich. Er kam zurück und prallte gegen die Hauswand, dass die Hütte unter dem Gewicht des schweren Mannes erzitterte. Als er Lorenzos Blick bemerkte und die Pike in seiner Hand sah, grinste er übers ganze Gesicht und nickte ihm zu.
Enrico nahm Urso die Armbrust ab und wog sie in der Hand. Er verzog den Mund zu einer verächtlichen Grimasse, legte einen von seinen Bolzen in die Rinne, dann stemmte er beide Waffen in die Hüfte. Corto drehte sich zu ihnen um.
»Der Platz in der Mitte des Dorfes mit dem alten Baum – erinnert ihr euch?«, flüsterte er. Die Männer nickten. »Da ist ein ganzer Haufen von den Kerlen, neun oder zehn. Die anderen sehe ich nicht.«
»Die sind in den Hütten«, sagte Lorenzo. Die Pike war schwer in seinen Händen. Wenn er sich etwas hätte wünschen können, dann, die Pike wegzuwerfen und am anderen Ende der Welt zu sein. Seit er sie angefasst hatte, war das Knäuel in seinem Inneren zum Halten gekommen. Es saß jetzt wie ein fassbarer Klumpen in seinem Magen. Er war sicher, dass es den anderen nicht besser erging: Ein Kämpfer ohne Angst war wertlos, weil er unachtsam war. Ebenso war er sicher, dass keiner von ihnen das Gewicht fühlte, das sich, Zeit und Raum überbrückend, an seine Waffe geheftet hatte: das Gewicht des sterbenden Mannes, den er durchbohrt hatte, das Gewicht des Mannes, der ihm den Rücken zugewandt hatte, weil er geglaubt hatte, von Lorenzo drohe keine Gefahr. Er
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