Die Braut des Shawnee-Kriegers
privaten Schatz, der nur ihr und Wolf Heart gehörte. Doch hier im Dorf gab es nun mal keine Geheimnisse. So oder so, jeder wusste Bescheid.
White Moon wandte sich wieder ihrer eigenen Arbeit zu, doch Clarissa bemerkte den wehmütigen Schimmer in ihren dunklen Augen. Erst in diesem Moment wurde es ihr klar – White Moon, die jüngere zweite Frau des Häuptlings, die wie eine Mutter des ganzen Dorfs war, hatte keine eigenen Kinder. Waren sie gestorben oder gestohlen worden? Oder waren sie immer eine unerfüllte Sehnsucht geblieben? Sie musste unbedingt erfahren, was der Grund für die Traurigkeit war, die die Augen der klugen, gütigen Frau verdunkelte. Doch es wären zu schmerzliche Fragen gewesen, um sie White Moon selbst zu stellen. Swan Feather würde ihr Antwort geben. Swan Feather wusste alles.
Clarissa beendete ihre Morgenarbeit im Garten und eilte hinauf zur Hütte der alten Frau. Sie freute sich schon auf die Lehrstunde, auf das Gefühl der trockenen Kräuter zwischen den Fingern und auf ihre barsche Pflegemutter, die sie wieder mit ihrem Wissen bereichern würde. Während sie den schmalen Weg hinaufging, beschloss sie, ihr selbst von dem Baby zu erzählen. Die Nachricht, bald ein Enkelkind zu bekommen, würde ihr müdes Herz mit Glück erfüllen.
Ein Stück voraus konnte sie zwischen den Bäumen schon den Umriss der Hütte erkennen. Die alte Frau würde inzwischen längst auf den Beinen sein. Vermutlich beendete sie gerade ihr Frühstück, oder sie bearbeitete eine der Rehhäute, die Wolf Heart ihr von der letzten Jagd mitgebracht hatte. Obwohl Clarissa protestierte und darauf hinwies, dass Swan Feather nun eine Tochter hatte, die für sie sorgte, damit sie sich endlich die wohlverdiente Ruhe gönnte, bestand sie darauf, ihr volles Tagespensum zu leisten. Deshalb fand Clarissa es auch so sonderbar, dass die Hütte an diesem Morgen so still und verwaist wirkte.
Eine Elster stieß einen schnarrenden Warnschrei aus, als sie zu rennen begann. Sicher gab es einen guten Grund dafür, dass die Hütte so unbelebt wirkte und sich nicht einmal ein wenig Rauch durch den Abzug kräuselte. Es muss eine harmlose Erklärung dafür geben, versuchte Clarissa sich zu beruhigen, selbst als sie sah, dass das Frühstück aus Maisbrei und Rehfleisch, das sie am Morgen zur Hütte gebracht hatte, unberührt vor der Tür stand. Ihre Mutter schlief noch, oder sie war hinausgegangen, um sich zu erleichtern. Vielleicht fühlte sie sich auch nicht gut.
Doch als Clarissa in die dämmrige Hütte hastete, wusste sie im tiefsten Innern, was sie dort vorfinden würde.
Swan Feather lag auf dem Rücken, eingemummelt in die Felle, die Wolf Heart ihr als Brautpreis für Clarissa gegeben hatte. Ihre abgearbeiteten Hände waren wie bei einem Kleinkind zu Fäusten geballt und ihre Augen fest geschlossen. Sie hätte tatsächlich schlafen können, wären da nicht die großen Schmeißfliegen gewesen, die unbeachtet um ihr Gesicht summten und sich ab und zu in ihren Augenwinkeln oder am Mund niederließen, wo sie noch etwas Feuchtigkeit entdeckten. Swan Feather hasste Fliegen!
Unwillkürlich verscheuchte Clarissa die Insekten. Erst dann wurde ihr die volle Wahrheit bewusst, und sie spürte, dass die Knie unter ihr nachgaben. Auf dem Lehmboden der Hütte sank sie in sich zusammen. Plötzlich erinnerte sie sich an ihren Vater, der im offenen Sarg im Salon lag – die Sommerfliegen, der süßliche Duft der Rosen und das tiefe, fürchterliche Gefühl des Verlusts.
Zitternd schlang sie die Arme um sich und versuchte, Kummer und Erschütterung niederzuringen, die sie zu überwältigen drohten. Sie war die Tochter – jetzt selbst die Heilerin – und nur wenn sie Stärke zeigte, konnte sie das Andenken der Frau in Ehren halten, die ihr so viel gegeben hatte.
Ihre Stimme erhob sich zu den ersten klagenden Tönen des Todesgesangs der Shawnee. Doch er klang so fehl am Platz, so unnatürlich in dem dämmrigen, engen Raum der Hütte, dass ihre Stimme schwankte und schließlich erstarb. Schweigend kniete sie neben dem Lager, trotz der Wärme überlief sie ein Frösteln. Wolf Heart! Sie brauchte ihn, und sie brauchte ihn jetzt! Wenn sie ihm einen Reiter nachschickte, einen Jungen auf dem schnellsten Pony …
Doch sie wusste, dass sie ihn nicht zurückrufen durfte. Das Dorf brauchte Fleisch, und hier konnte Wolf Heart ohnehin nichts tun. Vor die Wahl gestellt, würde er sich dafür entscheiden, den Lebenden zu helfen, nicht den Toten.
Mit unsicherer Hand
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