Die Braut des Vagabunden
„Zweifellos war irgendein Mädchen vom Lande froh, diese hier gegen Gewinn zu verkaufen.“
Er trug eine Perücke, deren Haar ebenso schwarz war wie sein eigenes, doch anstatt der ungebändigten Mähne lagen nun dicke, gepflegte Locken um seine Schultern. Sie waren länger als sein eigenes Haar und veränderten sein Aussehen beträchtlich. Außerdem war er glatt rasiert, und als er sich bewegte, stieg Temperance ein schwacher Duft von Orangenblüten in die Nase. An diesem Tag sah er weitaus weniger wie ein Halunke und eher wie ein Gentleman aus. Allerdings trug er wieder denselben von der Reise zerknitterten Mantel, und den Kasten mit der Laute hatte er sich über die Schulter gehängt wie beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte. Die Adlernase und die durchdringenden Augen waren immer noch die des Vagabunden.
Ihr Herz schlug dreimal so schnell wie gewöhnlich. Sie wollte ihn bitten, näher zu treten, und gleichzeitig wollte sie ihn wegschicken, ehe er ihr Leben auf den Kopf stellte. Ihr war bewusst, dass Isaac sie anstarrte. Um ihren Stolz zu wahren, wollte sie Jack Bow wie jeden anderen Kunden behandeln, aber ein paar Herzschläge lang fiel ihr nicht ein, was sie sagen sollte. Sie konnte ihn bloß anstarren.
Er erwiderte ihren Blick ebenso aufmerksam. Eine so gründliche Musterung durch einen Mann war sie nicht gewohnt – außer, wenn einer mit ihr handelte. Aber Jack Bow betrachtete sie nicht, wie ein Händler es tat. Er – er sah sie einfach nur an. Ihr wurde heiß.
„Mistress?“, fragte Isaac unsicher.
Mühsam löste Temperance den Blick von Jacks Gesicht. An Isaacs Miene erkannte sie, dass er sich sorgte und nicht wusste, was er tun sollte.
„Geh ins Bett“, sagte sie. Ihre Stimme klang, als gehörte sie zu jemand anderem.
„Ins Bett?“, fragte Jack. „Es ist mitten am Nachmittag.“
„Es geht ihm nicht gut“, verteidigte Temperance ihren Lehrjungen.
„Ah.“ Einen Moment lang ließ Jack seinen prüfenden Blick auf Isaac ruhen. Dann nickte er, als wollte er die Richtigkeit ihrer Behauptung bestätigen. „Du kannst deiner Herrin ruhig gehorchen, Junge. Ich werde ihr nichts tun.“
„Nein, das werdet Ihr nicht“, gab Temperance zurück. „Und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr darauf verzichten würdet, in meinem Laden Anweisungen zu erteilen.“
Jack lächelte. „Warum gehen wir nicht hinaus, damit Ihr ein Auge auf Eure Waren haben könnt?“, schlug er vor.
Während Isaac nach oben ging, folgte Temperance Jack zur Tür. Rasch musterte sie die Auslagen, um sich zu überzeugen, dass nichts verschwunden war. Sie strich ein Stück Wolltuch glatt, dann sah sie auf und bemerkte, dass Jack sie lächelnd beobachtete.
„Warum seid Ihr so extravagant?“, platzte sie heraus. „Mit Eurem Haar war alles in Ordnung. Wenn Ihr es nur ordentlich gekämmt und frisiert hättet …“
„Bewundert Ihr nicht meine neuen Locken?“ Ganz kurz strich er über eine der schwarzen Strähnen, die auf seiner Schulter ruhten. Die Geste erinnerte sie an die Gecken, die zuweilen an ihrem Laden vorübergingen, doch in dem Blick aus seinen dunklen Augen lag nichts Eitles.
„Vermutlich habt Ihr darunter eine Glatze“, sagte sie. Sie fühlte sich verstimmt und begriff den Grund dafür nicht.
„Nicht ganz. Bedauert Ihr, keine Gelegenheit zu haben, mit den Fingern durch mein Haar zu streichen? Das hättet Ihr letzte Nacht erwähnen sollen.“
„Sprecht leiser!“, befahl Temperance, die seine Indiskretion beunruhigte. Sie sah sich um, ob wohl jemand ihn gehört hatte. Zum Glück befand sich Agnes Cruikshank, ihre Nachbarin zur Linken, gerade mit einem Kunden im Gespräch.
„Jawohl, Madam Tempest.“ Jack grinste.
„All meine Tuche sind von der feinsten Qualität“, erklärte sie. „Denkt Ihr an einen neuen Überrock, Sir? Etwas, das zu Eurem schönen neuen Haar passt? Dieses Rosa würde vortrefflich zu den süßen Locken aussehen.“
„Schwarz oder Blau wäre wohl angemessener“, meinte er und ertastete die Qualität des Stoffes mit Daumen und Zeigefingern. „Das passt dann zu meinen blauen Flecken, wenn Ihr den Stock hervorholt, den Ihr an der Hüfte tragt.“
„Meine Kunden pflege ich niemals zu schlagen …“
„Außer wenn sie sich weigern zu zahlen“, erinnerte er sie.
„Ich habe nicht geschlagen! Ich habe nur gegen seinen Stuhl getreten! Ihr wart es, der …“ Sie unterbrach sich. Wie hatte er sie nur in diesen lächerlichen Streit verwickeln können? Doch er musste sie nur ansehen
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