Die Braut des Vagabunden
dieser Farbe. In rosa Musselin wirst du den alten Mann niemals zu Tode erschrecken.“
„Was wollt Ihr tun?“, fragte Temperance.
„Seinen Großvater zu Tode erschrecken“, erwiderte der Freund.
„Was?“
„Er ist fast neunzig. Erst wenn er stirbt, kann ich Anspruch auf mein Erbe erheben“, erklärte Tredgold.
„Ihr solltet Euch schämen!“, platzte Temperance heraus. „An so einem bösen Plan will ich nicht teilhaben. Gebt sofort das Leinen her!“
„Ich gebe es her“, schnaubte Tredgold. „So wird es nicht gehen. Ich muss mir etwas anderes ausdenken.“ Er warf den Stoff zu Boden, ließ sich auf einen Stuhl fallen und schenkte sich mehr Wein ein.
Temperance starrte auf den schmutzigen, zerknitterten Stoff, den sie jetzt nicht mehr verkaufen konnte.
„Für die Waren, die Ihr verdorben habt, müsst Ihr zahlen“, sagte sie und versuchte, ihren Ärger im Zaum zu halten.
Tredgold lachte. „Für diese nutzlosen Lumpen bezahle ich nicht.“
„Ich habe euch keine Lumpen gebracht. Ich brachte Euch feines Leinen und Musselin, wie Ihr es verlangt habt“, sagte Temperance. „Ihr wart es, die sie verdorben haben. Ihr müsst bezahlen.“
Hochmütig hob Tredgold die Brauen und ließ den Blick in beleidigender Art und Weise über Temperances Körper gleiten. Er zuckte die Achseln. „Schickt Euren Herrn, um das Geld einzufordern“, sagte er. Dann wandte er sich ab und kippte den Stuhl auf die Hinterbeine, als er nach dem Weinkrug griff.
So fest sie konnte, trat Temperance gegen das Stuhlbein, das sich ihr am nächsten befand. Mit einem Aufschrei fiel Tredgold hintenüber. Der Weinkrug flog durch die Luft, und der Inhalt ergoss sich über Tredgold und spritzte auf Temperances Röcke. Der Krug schlug gegen die Tischkante und zersplitterte dann auf dem Boden.
Als er zu ihr hinaufblinzelte, stand Temperance über ihn gebeugt. Ihr Herz schlug wie rasend, aber sie war zu wütend, um sich zu fürchten.
„Ihr werdet mich bezahlen“, sagte sie. „Steht auf und gebt mir das Geld.“
Ein paar Sekunden lang starrte Tredgold sie an, bevor sein benommener Blick verächtlich wurde.
„Miststück!“, fuhr er sie an. „Ich werde Euch lehren …“
Sie trat einen Schritt zurück und griff durch den Schlitz in ihrem Rock nach dem Stock. Sie war größer als Tredgold, doch sie gab sich keinen Illusionen darüber hin, dass sie auch stärker sein könnte.
Mühsam richtete Tredgold sich auf. Um sich schnell zu bewegen, war er zu benommen. Temperance hätte Zeit gehabt zu fliehen, aber weglaufen lag nicht in ihrer Natur. Sie verfluchte ihre Entscheidung, in die Taverne zu kommen, gleichzeitig hielt sie den Stock an ihrer Seite und ihre Aufmerksamkeit auf Tredgold und seinen Freund gerichtet.
Tredgold schüttelte den Kopf, und dann, ohne Vorwarnung, stürzte er sich auf sie.
Ihr blieb gerade genug Zeit, den Stock zu heben und in seinen Bauch zu stoßen. Fluchend wich er zurück. Dass sie bewaffnet war, hatte er nicht bemerkt.
Erleichtert holte Temperance Luft. Der erste Sieg ging an sie. Doch obwohl der Stock ihre Reichweite vergrößerte, war es ihr nicht gelungen, so viel Kraft in den Stoß zu legen, wie sie gehofft hatte. Tredgold war nicht verletzt, und jetzt war er gewarnt.
Da jetzt keine Notwendigkeit mehr bestand, den Stock zu verstecken, hielt sie ihn mit beiden Händen vor sich, bereit, sich gegen Tredgolds nächsten Angriff zu verteidigen.
Schneller, als sie es erwartet hatte, kam er auf sie zu, die Zähne zum Angriff gefletscht, beide Fäuste erhoben …
Im nächsten Augenblick wurde er herumgeschleudert und gegen die Kante des schweren Tisches geworfen. Knirschend rutschte der Tisch über den Boden, bis er gegen die Wand stieß. Der Musikant war Temperance zu Hilfe gekommen. Jetzt wartete er mit einem spöttischen Lächeln darauf, dass Tredgold wieder auf die Füße kam, der schwer atmend am Tisch lehnte, den Kopf über die verschränkten Arme gebeugt. Plötzlich stieß er einen wilden Schrei aus und fuhr herum, aber der Musikant wich dem Hieb mühelos aus. Noch einen weiteren Schlag blockte er ab, dann schickte er Tredgold mit einem einzigen Hieb auf den weingetränkten Boden.
Allmählich begann Temperance wieder ruhiger zu atmen, während sie langsam begriff, was vor sich ging. Sie wusste nicht, wann der Musikant in den Nebenraum gekommen war. Sie hatte ihn erst bemerkt, als er sie so schnell wie ein Blitz vor Tredgolds Angriff beschützt hatte. Jetzt starrte sie ihn an. Er erwiderte ihren
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