Die Braut im Schnee
Sie trug weder Schuhe noch Strümpfe. Den Slip hatte man ihr bis zu den Knöcheln heruntergezogen, den Rock über die Hüften nach oben geschoben. Tatsächlich sah es so aus, als habe man sie auf besonders schamlose Weise ausstellen wollen. Ihr Oberkörper war weit nach vorne gebeugt. Die Arme waren angewinkelt. Ihr Kopf lag auf dem linken Unterarm und war zur Seite gedreht. Marthaler ging um sie herum, um ihr Gesicht sehen zu können. Unwillkürlich zuckte er zurück. Das Antlitz der Toten war zu einer Grimasse verzerrt. Die blutunterlaufenen Augen waren halb geöffnet und die Mundwinkelwie zu einem schmerzhaften Grinsen nach oben gezogen. Zwischen den bläulich verfärbten Lippen konnte man ihre Zungenspitze sehen.
Marthaler wandte sich ab. Er schaute sich Hilfe suchend nach seinem Kollegen um. Als er versuchte zu sprechen, klang es wie ein Krächzen. «Kannst du mir sagen, was hier passiert ist? Was ist das? Mit was für einem Verbrechen haben wir es zu tun? Verstehst du irgendwas von dem, was wir hier sehen?»
Sven Liebmann stand zwei Meter entfernt und sah ihn kopfschüttelnd an. Dann machte er eine vage Handbewegung in Richtung der toten Frau. «Hast du das gesehen?»
«Was?»
«Sie hält etwas in der Hand. Ein Stück Stoff.»
Marthaler ging neben der Toten in die Hocke. Ihre rechte Hand war halb unter dem Oberkörper verborgen. Trotzdem konnte man erkennen, dass sich ihre Finger krampfhaft um einen Fetzen weißes Gewebe klammerten.
«Sieht aus wie ein Stück von einer Gardine», sagte er. «Was auch immer es sein mag, darum müssen sich die Kriminaltechniker kümmern. Ich verstehe nur, dass ich gar nichts verstehe.»
Marthaler schaute den jüngeren Kollegen an. Kurz hatte er den Eindruck, Sven Liebmann würde weinen. Dann sah er, dass das, was er für Tränen gehalten hatte, Schneeflocken waren, die als Schmelzwasser über Liebmanns Gesicht liefen.
«Man möchte sich abwenden und alles sofort vergessen», sagte Marthaler. «Und trotzdem bin ich schon jetzt sicher, dass wir selten einen Fall hatten, bei dem wir gezwungen waren, so genau hinzuschauen. Das hier hat der Mörder regelrecht inszeniert. Wir dürfen nichts übersehen. Hier ist alles von Bedeutung.»
«Ich werde im Präsidium anrufen», sagte Sven Liebmann.«Wir brauchen mehr Leute. Wir müssen versuchen, Zeugen zu finden, wir müssen die Nachbarn befragen. Wir müssen herausfinden, wer ihre Angehörigen sind. Wir können nicht nur hier herumstehen und die Tote anstarren.»
Marthaler nickte, aber er fühlte sich wie gelähmt. Und er war dagegen, jetzt bereits mit der gewohnten Ermittlungsroutine zu beginnen. Er hatte das Gefühl, dass sie damit lediglich ihre Ratlosigkeit verbergen würden.
Plötzlich kam von der Straße her Lärm. Sie hörten laute Stimmen. Jemand schrie. Es wurde gestritten. Marthaler ging bis zur Absperrung. Zwei uniformierte Polizisten hielten einen Mann fest, der mit Gewalt versuchte, sich loszureißen. Marthaler wandte sich an den Fremden: «Was ist hier los? Wer sind Sie? Was wollen Sie?»
Noch während er die Fragen stellte, kam er sich lächerlich vor. Der Mann tobte weiter. Marthaler wurde laut: «Wenn Sie sich nicht sofort beruhigen, werde ich Sie verhaften lassen!»
Erstaunt sah ihn der Mann an. Seine Widerstandskraft ließ augenblicklich nach. «Ich will zu meiner Verlobten. Sie wohnt hier.»
«Wer sind Sie? Wie heißt Ihre Verlobte? Zeigen Sie mir Ihren Personalausweis!»
Der Mann nestelte in seiner Jackentasche und zog eine Brieftasche hervor. Dann reichte er Marthaler sein Ausweiskärtchen. Marthaler warf einen kurzen Blick darauf und gab es an einen der Uniformierten weiter.
«Wir werden Ihre Daten in unser System eingeben und Ihre Personalien überprüfen. Wie heißt Ihre Verlobte, Herr Assmann? Wann haben Sie sie zuletzt gesehen? Wo waren Sie in den letzten fünfzehn Stunden?»
«Sie heißt Gabriele Hasler», sagte der Mann. Seine Stimme klang wie die eines Automaten. «Ich komme gerade aus Köln. Dort wohne ich. Vor drei Wochen war ich das letzte Mal hier.Ich habe mich verspätet. Gabriele wartet auf mich.» Dann verstummte er. Er starrte Marthaler an und fragte schließlich mit leiser Stimme: «Was ist passiert? Sagen Sie mir bitte, was passiert ist.»
Marthaler schaute zu Boden. Er hatte Kopfschmerzen. Er merkte, dass er nicht in der Lage sein würde, den Mann in den Hof zu führen und ihn zu bitten, die Tote zu identifizieren. Er schaute sich Hilfe suchend um, hob die Hand und winkte Sven
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