Die Braut im Schnee
Liebmann heran.
«Warten Sie», sagte er, «mein Kollege wird sich um Sie kümmern.»
Liebmann, der den letzten Satz mitgehört hatte, sah Marthaler an, dann nickte er. Er legte dem Mann eine Hand auf die Schulter: «Kommen Sie», sagte er.
Marthaler beeilte sich, die beiden zu überholen. Ohne einen weiteren Blick auf das Opfer zu werfen, ging er über den Hof zur Eingangstür des Hauses, wo ihm Walter Schilling begegnete.
«Du kannst jetzt rein», sagte der Chef der Spurensicherung, «aber fass bitte nichts an.»
«Nein», sagte Marthaler, «solange deine Leute hier zu tun haben, bekomme ich kein Gefühl für das Gebäude. Das muss warten. Gibt es einen Raum, wo ihr schon fertig seid? Können wir irgendwo reden?»
«Ja. Lass uns in die Küche gehen. Ich sage Bescheid, dass wir nicht gestört werden wollen.»
«Du siehst nicht gut aus», sagte Marthaler, als sie einander an dem alten Küchentisch gegenübersaßen.
«Dann schau bitte in den Spiegel», erwiderte Schilling.
Marthaler fühlte sich ertappt. «Ich weiß», sagte er, «ich habe gestern lange gearbeitet und heute Nacht schlecht geschlafen.»
«Natürlich, das wird es sein», sagte Schilling und versuchte ein Lächeln. «Hauptsache, wir geben nicht zu, dass es der Anblick der Toten ist, der uns an die Nieren geht, nicht wahr.»
Marthaler vermied es, auf die Kritik seines Kollegen einzugehen. «Was habt ihr bisher herausgefunden? Kannst du mir sagen, was hier geschehen ist?»
Schilling schloss kurz die Augen, als müsse er sich für seinen Bericht sammeln. «Sie heißt Gabriele Hasler, dreißig Jahre alt. Sie ist Zahnärztin und betreibt eine Praxis im Nordend. Ich meine … sie betrieb eine Praxis. Jedenfalls habe ich das den Unterlagen entnommen, die wir gefunden haben. Hier, die Adresse habe ich dir aufgeschrieben.» Schilling reichte Marthaler einen Zettel, dann sprach er weiter. «Ob es Angehörige gibt, wissen wir noch nicht. Wir haben das Material, das wir für wichtig hielten, in zwei Kartons verpackt, damit ihr die sichten könnt. Hier gibt es Tausende Bücher, Zeitschriftenarchive, Aktenordner. Wenn wir das alles überprüfen sollen, werdet ihr erst in ein paar Tagen hier reinkönnen. Die andere Möglichkeit ist, ihr guckt euch das an Ort und Stelle an und sagt Bescheid, wenn ihr unsere Hilfe braucht.»
Marthaler nickte. «Ja. Das ist wohl die bessere Idee. Wir müssen so schnell wie möglich hier rein, um uns selbst ein Bild machen zu können. Was meinst du, kommt ein Raubmord in Frage?»
Schilling schaute skeptisch drein. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. «Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Fernseher, Musikanlage, Computer, das alles ist nicht angerührt worden. Auf dem Nachttisch lag eine Brieftasche, in der etwas über zweihundert Euro steckten. Und im Bad haben wir eine Kassette mit Schmuck gefunden. Ein Räuber hätte sich das wohl kaum entgehen lassen.»
«Hat schon ein Gerichtsmediziner die Leiche gesehen?»
«Ja. Dr. Herzlich war hier. Er schätzt, dass ihr Tod gegenMitternacht eingetreten ist. Was die Todesursache angeht, wollte er sich noch nicht festlegen. Jedenfalls sei sie stranguliert worden.»
«Stranguliert?»
«Ja … und …»
Zum wiederholten Mal fuhr direkt hinter dem Haus ein Zug vorbei. Der Lärm war so groß, dass sie ihr Gespräch unterbrechen mussten. Die Dielen des Fußbodens vibrierten, und das Geschirr im Küchenschrank klirrte. Marthaler wartete darauf, dass Schilling weitersprach. «Was … und?», fragte er schließlich.
«Und dass man sie gequält hat.»
«Was meinte Herzlich damit?»
«Er meint, dass sie nicht einfach getötet wurde, sondern dass es lange gedauert hat, bis sie gestorben ist. Am besten, du sprichst selbst mit ihm.»
«Das werde ich tun», sagte Marthaler. «Aber ich will von dir wissen, was du von der Sache hältst.»
«Ich denke, dass es einen Kampf gegeben hat. Ich denke, dass sie nicht im Hof getötet wurde, sondern hier im Haus. Es gibt Kampfspuren in mehreren Zimmern. Ich glaube, dass der Täter sie erst ins Freie gebracht hat, nachdem sie bereits tot war. Er hat die Leiche in den Hof geschleift, und dann hat er sie … na ja, er hat sie so hergerichtet, wie sie dann gefunden wurde.»
«Was hältst du davon? Hast du so was schon mal gesehen?»
«Nein, niemals, außer in den Lehrbüchern. Es ist wie von einem anderen Stern.»
Marthaler merkte, dass Schilling noch etwas sagen wollte: «Wie meinst du das: wie von einem anderen
Weitere Kostenlose Bücher