Die Braut im Schnee
eingebracht. Marthaler wusste das. Es war Carlos Sabato gewesen, der ihn im Streit einmal angeschrien hatte: «Du bist nicht fleißig, du bist besessen.» Marthaler hatte diese Bemerkung des Kriminaltechnikers nie vergessen, und fast wäre ihre Freundschaft darüber zerbrochen. Schon oft hatte er sich vorgenommen, einen größeren Abstand zu seiner Arbeit zu wahren. Aber er hatte es einfach nicht in der Hand. Bei jedem neuen Fall war er wieder in seine alten Gewohnheiten verfallen.
Plötzlich fand er sich allein in der Küche. Er hatte nicht gemerkt, dass Walter Schilling gegangen war. Er stand auf und schaute aus dem Fenster. Der Schneefall hatte nachgelassen. Hundert Meter entfernt sah er die drei Gewächshäuser im Feld. Noch immer war das mittlere beleuchtet.
Als hinter ihm ein Telefon läutete, schrak er zusammen. Marthaler überlegte einen Moment, dann zog er sein Taschentuch hervor und nahm den Hörer ab: «Ja?»
Am anderen Ende herrschte kurze Zeit Schweigen. Schließlichmeldete sich eine Frauenstimme. «Entschuldigung, ich habe mich wohl verwählt.»
«Vielleicht auch nicht. Mit wem spreche ich?», fragte Marthaler. Er wartete, aber niemand gab ihm Antwort. Es wurde aufgelegt.
Eine halbe Minute später klingelte es erneut.
«Hier spricht Robert Marthaler. Ich befinde mich im Haus von Gabriele Hasler. Mit wem spreche ich, bitte?»
«Zahnarztpraxis Hasler. Mein Name ist Marlene Ohlbaum. Ich wollte die Chefin sprechen. Ob sie mich wohl zurückrufen kann?»
«Hören Sie, ich bin Kriminalpolizist. Ihre Chefin kann Sie nicht zurückrufen. Gabriele Hasler ist tot. Und bleiben Sie bitte, wo Sie sind. Ich bin spätestens in einer halben Stunde bei Ihnen.»
Im Haus arbeiteten noch immer die Leute der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen. Als Marthaler den Hof betrat, sah er den Leichenwagen des Zentrums der Rechtsmedizin. Gerade wurde die Heckklappe geschlossen. Sven Liebmann kam auf ihn zu.
«Robert, wo hast du gesteckt?»
«Ich habe mir von Schilling einen ersten Bericht geben lassen. Hat die Befragung des Verlobten etwas ergeben?»
«Er hat die Tote identifiziert, dann hat er noch hier im Hof einen Nervenzusammenbruch erlitten. Inzwischen hat er sich ein wenig erholt. Wir haben ihm ein starkes Beruhigungsmittel gegeben.»
«Hat er ein Alibi?»
«Er sagt, er sei gestern Abend mit einem Freund in der Kölner Südstadt bis zirka 23 Uhr unterwegs gewesen. Ich habe die Kölner Kollegen bereits gebeten, das zu überprüfen. Dann sei er in seine Wohnung gefahren. Um Mitternacht habe er noch versucht, Gabriele Hasler anzurufen, um ihrzum Geburtstag zu gratulieren, sie sei aber nicht zu erreichen gewesen. Ich glaube nicht, dass er etwas mit ihrem Tod zu tun hat. Trotzdem sollten wir ihn erst einmal festhalten. Ich habe ihn ins Präsidium bringen lassen. Er hatte nichts dagegen.»
«Du sagst, heute ist Gabriele Haslers Geburtstag?»
«Ja, seltsam, nicht wahr.»
«Ich weiß nicht. Vielleicht, ja.»
«Wie gehen wir weiter vor? Meinst du nicht, wir sollten jetzt Verstärkung anfordern?», fragte Liebmann.
«Doch, du hast Recht», erwiderte Marthaler. «Leite das in die Wege. Die Nachbarn müssen gefragt werden, ob irgendwer etwas Auffälliges bemerkt hat. Und wenn es Angehörige gibt, müssen wir sie benachrichtigen. Ich fahre jetzt in die Zahnarztpraxis von Gabriele Hasler. Gerade hat ihre Sprechstundenhilfe hier angerufen. Ich will sehen, ob sie etwas weiß, das uns weiterhilft.»
Sven Liebmann schaute Marthaler mit ernster Miene an: «Was hältst du von der Sache?»
«Ich denke, dass wir einen riesengroßen Haufen Scheiße an den Hacken haben.»
Liebmann nickte. «Ja», sagte er, «anders kann man es wohl nicht nennen. Und ich fürchte, dass wir diesen Haufen für einige Zeit nicht loswerden.»
VIER
Aus irgendeinem Grund hatte sich Marthaler eine Frau, die den Namen Marlene Ohlbaum trug, älter vorgestellt. Aber die magere Zahnarzthelferin war höchstens Anfang zwanzig. Ihre Augen waren verschwollen, und ihre Stimme zitterte. Bevor sie die Tür zur Praxis vollständig öffnete, um ihn einzulassen, bat sie Marthaler, seinen Ausweis zu zeigen. Als der Geruch der Räume in seine Nase drang, bekam er ein schlechtes Gewissen. Sofort fuhr er mit der Zunge an der Innenseite seiner Zähne entlang. Es war über ein Jahr her, dass er zuletzt beim Zahnarzt gewesen war. Er beschloss, sich noch am Nachmittag einen Termin geben zu lassen. Als er im Vorbeigehen hinter einer offenen Tür den
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