Die Braut im Schnee
Stern?»
«Ich glaube, hier hat nicht einfach jemand töten wollen.» Wieder zögerte Schilling.
«Sondern?»
«Sondern ich glaube, dass hier jemand seinen Spaß hatte.» Schilling sah aus, als sei er nicht sicher, die richtigen Worte gefunden zu haben, als könne er etwas Unpassendes gesagt haben.
Es dauerte lange, bis Marthaler reagierte. Er hatte Mühe, seine Ratlosigkeit zu verbergen. Mit einem sadistisch motivierten Mord hatte er noch nicht zu tun gehabt. Es war nicht so sehr die Brutalität des Verbrechens, die ihn fassungslos machte. Vielmehr war es die unermessliche Fremdheit, die darin zum Ausdruck kam. Wenn es stimmte, was Schilling gerade angedeutet hatte, dann hatten sie es mit einem Fall zu tun, bei dem seine Erfahrungswerte versagten.
«Wie ist der Täter ins Haus gekommen? Gibt es Hinweise, dass er eine Tür oder ein Fenster aufgebrochen hat?»
«Nein, nichts dergleichen. Es sieht zwar aus, als sei die Haustür mal aufgehebelt worden, aber das kommt auch vor, wenn jemand seinen Schlüssel vergessen hat. Außerdem sind die Spuren schon älter. Das gesamte Gebäude ist schlechter gesichert als jede Gartenhütte.»
«Das heißt, dass sie den Täter ins Haus gelassen hat? Dass sie ihn vielleicht sogar kannte.»
Schilling hob die Hände: «Was auch immer es heißt – das müsst ihr herausfinden. Vielleicht hat er auch ein gekipptes Fenster geöffnet, ist eingestiegen und hat es von innen wieder verschlossen.»
«Aber die Rollläden vor den Fenstern sind alle heruntergelassen.»
«Ja, so haben wir es vorgefunden. Aber das muss ja nicht so gewesen sein, als er ins Haus gekommen ist. Das kann auch einfach nur heißen, dass er keine Zuschauer wollte.»
«Ich verstehe», sagte Marthaler. «Habt ihr schon irgendwas, das auf den Täter hinweisen könnte?»
«Wenn du meinst, ob er seine Visitenkarte auf dem Wohnzimmertisch hinterlassen hat – nein. Ich bitte dich, Robert, wir haben Hunderte Spuren eingesammelt. Wir haben Haare und Fingerabdrücke verschiedener Herkunft, benutztes Geschirr, getragene Kleidungsstücke, mehrere Zahnbürsten, Fußabdrücke, die ganze Palette – Sabato wird seine Freude haben. Was davon dem Täter zuzuordnen ist, kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Und – wie du selbst weißt – wenn er bislang nicht auffällig geworden ist, dann fehlen uns die Vergleichsproben. Wenn wir ihn nicht in einer unserer Dateien haben, dann werden uns die Spuren erst etwas nützen, wenn ihr ihn gefasst habt.»
Marthaler sah ein, dass es keinen Zweck hatte. «Eins noch», sagte er, «du hast von Kampfspuren gesprochen?»
«Ja. Wie es aussieht, ist die Küche der einzige Raum, wo sich Täter und Opfer nicht gemeinsam aufgehalten haben. Auf dem Flur und in fast allen anderen Zimmern haben wir Hinweise auf eine Auseinandersetzung gefunden. Im Wohnzimmer wurde ein Sessel umgeworfen, und der Teppich ist verrutscht. Außerdem wurde die Gardine heruntergerissen. Im Schlafzimmer sind überall auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke zu finden. Auf dem Treppenabsatz zum ersten Stockwerk liegen die Scherben einer zerbrochenen Bodenvase, ein paar Stufen tiefer ein Frauenschuh. Und so weiter. Da dich meine Meinung zu interessieren scheint: Ich denke, der Typ hat mit der Frau Katz und Maus gespielt.»
«Wie kommst du darauf?»
«Als ich das Chaos sah und Dr. Herzlich meinte, der Täter habe die Frau gequält, hatte ich sofort die Vorstellung, dass er sie regelrecht durchs Haus gehetzt haben muss.»
Marthaler schwieg. Wieder brachte ein vorbeifahrender Zug das Haus zum Erzittern. «Ich verstehe nicht, wie man hier leben kann», sagte Schilling.
Marthaler nickte abwesend. Die letzten Worte, die der Chef der Spurensicherung an ihn gerichtet hatte, hatte er schon nicht mehr gehört. Er merkte, wie der Fall ihn von Minute zu Minute mehr in Beschlag nahm. Bereits jetzt hatte er das Gefühl, sich in einer Art Belagerungszustand zu befinden. Kaum etwas drang zu ihm durch, was nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte. Alle Gedanken, alle Gefühle waren darauf ausgerichtet herauszufinden, was letzte Nacht in diesem Haus geschehen war. Es war wie immer, wenn sie einen neuen Fall bekamen: Die Privatperson Robert Marthaler hörte auf zu existieren. Übrig blieb ein Ermittler, dessen Wahrnehmung nur noch auf den Täter fixiert war. Es war nicht zuletzt diese Eigenschaft, die Marthalers Erfolg als Kriminalist ausmachte. Bei seinen Kollegen und Vorgesetzten hatte ihm das sowohl Bewunderung als auch Misstrauen
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