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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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vielleicht gab man sich in solchen Häusern gar nicht die Hand, vielleicht nickte man einander nur zu. Er wusste es nicht.
    Er wusste ja noch nicht einmal, wie es war, in einer richtigen Familie zu leben. Seinen Vater kannte er nicht, und seine Mutter war gestorben, bevor er drei Jahre alt geworden war. Seine Familie bestand nur aus seinem Großvater. Er liebte den alten Mann, der alles versucht hatte, ihm die Eltern zu ersetzen. Trotzdem war Tobi klar, dass sein Leben anders verlief als das seiner Freunde. Und er hatte vor nichts größere Angst als vor dem Tag, an dem Opa sterben würde. Dann wäre er ganz allein.
    Umso wichtiger war ihm die Freundschaft zu Mara. Auch wenn die anderen Jungen ihn aufzogen und behaupteten, ersei verliebt. Am Anfang hatte er das bestritten; inzwischen war er sich nicht mehr sicher. Manchmal, wenn er in seinem Zimmer auf dem Bett lag, lächelte er still vor sich hin, wenn er an sie dachte. Oder er ertappte sich dabei, wie er während des Unterrichts ihren Namen auf ein Stück Löschpapier kritzelte.
    Jetzt sah er, wie das Fenster in ihrem Zimmer gekippt wurde. Keine Minute später öffnete sich das Garagentor, und sie kam mit ihrem Fahrrad heraus.
    «Hi», sagte er, als sie bei ihm ankam. «Wie ist die Laune?»
    «Schlecht», sagte sie. «Mami wollte mich nicht gehen lassen. Ich hab eine Vier in Latein geschrieben.»
    «Dann werde ich dich nachher kitzeln.»
    Als sich jetzt ihre Lippen zu einem kurzen Lächeln öffneten, blitzte ihre neue Zahnspange auf. Er schaute sie aufmerksam an. Alles an ihr war lang und dünn. Ihre Arme, ihre Finger, ihre Beine, selbst ihr Hals. Obwohl sie fast ein Jahr jünger war als er, war sie genauso groß. Wenn sie sich nahe genug gegenüberstanden, berührten sich ihre Nasenspitzen.
    Er sprang von seiner Mauer. Bevor er sich auf sein Rad setzte, streichelte er ihr leicht übers Haar. Sie fuhr ihm mit den Fingerspitzen kurz über die Lippen. So machten sie es immer. Jedes Mal, wenn sie sich begrüßten, tauschten sie eine kleine Berührung aus, als wollten sie ihren verschworenen Bund bekräftigen.
    «Komm», sagte er. «Lass uns fahren!»
    «Ja. Aber dass du mir nur nicht abhaust mit deinem neuen Flitzer.»
    «Fahr du vor», sagte er.
    «Du bist sehr stolz, nicht wahr? Auf dein Rad.»
    Er nickte. «Und wie!»
    Sie nahmen die Strecke durch den Wald. Nach fünf Kilometernkamen sie wieder ins Freie. Am Ende der Diezelschneise überquerten sie die schmale Fußgängerbrücke, die sie auf die andere Seite der Stadtautobahn brachte. Dann hatten sie die Streuobstwiesen am Rande der Schwanheimer Dünen erreicht.
    Sie hielten Ausschau nach einem Platz, wo sie ihr Lager für den Nachmittag aufschlagen konnten.
    «Sonne oder Schatten?», fragte er. «Wasser oder Bäume? Wiese oder Sand?»
    «Mmmh, am liebsten alles.»
    «Gut», sagte er. «Dann weiß ich eine Stelle, die der verwöhnten Prinzessin alles bietet.»
    Sie tat, als würde sie schmollen. «Du sollst das nicht sagen. Ich bin nicht verwöhnt.»
    «Schau mal», sagte er, «dort ist ein guter Platz.»
    Sie schoben ihre Räder noch ein paar Meter weiter, bis sie abseits des Feldweges an einer Stelle ankamen, die in der Nähe einer kleinen Kiesgrube lag. Dort fanden sie zwischen den Hecken und dem beginnenden Kiefernhain eine freie Sandfläche, wo sie sowohl Sonne als auch Schatten hatten und die so verborgen war, dass sie nicht gestört würden, wenn doch einmal ein Spaziergänger vorbeikommen sollte.
    Er löste die Verschnürung seines Rucksacks, zog die Wolldecke hervor und breitete sie auf dem Boden aus. Während er das Picknickgeschirr auspackte und zwei Becher mit Apfelsaft füllte, hatte Mara sich bereits ihrer Schuhe und Socken entledigt und sich neben ihm ausgestreckt. Sie lag auf dem Rücken und blinzelte in die Sonne.
    «Was gibt’s denn?»
    «Nudelsalat, nach Opis Rezept.»
    «Also schön fettig.»
    «Mmh!»
    «Prima», sagte sie. «Dann her damit.»
    Als sie gegessen und getrunken hatten, legten sie sich nebeneinander. Außer dem Zwitschern der ersten Vögel und dem fernen Lärm der Autos war nichts zu hören.
    «An was denkst du», wollte sie wissen, als sie ein paar Minuten mit geschlossenen Augen gedöst hatten.
    «Ich habe gerade an etwas gedacht, das ich früher gemacht habe, als ich noch kleiner war. Ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Ich hatte einen Platz auf dem Dach eines alten Stromhäuschens, wo ich oft stundenlang saß und die Leute beobachtet habe, die vorüberkamen. Aber

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