Die Braut im Schnee
Stromhäuschen gesessen und den Frauen nachgeschaut hatte. Dann war sie müde geworden und eingeschlafen. Als sie aufgewacht war, war Tobi verschwunden gewesen. Sie hatte nur schauen wollen, wo er war. Sie war in das Kiefernwäldchen gegangen, um ihn zu suchen. Dann war sie auf die kleine Lichtung zwischen den Bäumen gekommen. Sie hatte die Frau auf dem Boden gesehen und sofort gewusst, dass sie tot war. Sie hatte nie zuvor etwas so Schreckliches gesehen wie das Gesicht der toten Frau.
Tobi nahm die Tüte mit dem restlichen Apfelsaft und hielt sie Mara an den Mund. Er hatte Angst, seine Hände zitterten. Am liebsten hätte er sich neben sie auf die Decke fallen lassen und sie in den Arm genommen. Aber er wusste, dass er jetzt durchhalten musste. Und dass er Mara dazu bringen musste, aufzustehen. In kleinen Schlucken flößte er ihr die Flüssigkeit ein. Langsam wurde sie ruhiger.
«Komm», sagte er. «Ich helfe dir.»
Mühsam erhob sie sich. Ihre Beine wackelten, aber sie konnte schon wieder stehen.
«Ich muss mit dem Hund raus», sagte sie.
«Ja», sagte Tobi, «aber erst müssen wir hier weg.»
Sie sah ihn mit leeren Augen an. «Ich bin müde», sagte sie, «ich muss noch ein bisschen schlafen.»
Tobi merkte, dass sie in die Knie ging und sich wieder hinlegen wollte. Dann tat er etwas, von dem er sich nie hätte vorstellen können, es einmal zu tun. Er holte aus und schlug Mara mit der flachen Hand auf die Wange.
Endlich schien sie zu sich zu kommen. Sie schaute ihn erstaunt an. «Du hast mich geschlagen», sagte sie.
«Ja, aber das ist jetzt nicht wichtig. Wir müssen abhauen! Komm, Mara, bitte.»
Er raffte die Decke zusammen und stopfte sie in den Rucksack. Er nahm Mara bei der Hand und zog sie mit sich zu den Fahrrädern, die ein paar Meter weiter an einem Baum lehnten. Er sah, dass Mara Tränen in den Augen hatte.
«Du hast mich geschlagen.»
Endlich stieg sie auf. Sie fuhren denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Tobi übernahm die Führung. Immer wieder schaute er sich um, ob sie ihm noch folgte. Er versuchte, das Tempo so hoch wie möglich zu halten. Wenn er merkte, dass der Abstand zwischen ihnen größer wurde, drosselte er seine Geschwindigkeit, bis sie wieder bei ihm war. Er wollte sie nicht entmutigen. Er machte es wie die Radrennfahrer, die er schon oft im Fernsehen gesehen hatte. Er zog sie mit sich. Er war der Tempomacher. Er musste dafür sorgen, dass sie ins Ziel kam.
«Sie sind nicht da», sagte Mara, als sie vor dem großen Haus in Niederrad angekommen waren. «Du kannst mit reinkommen. Sie spielen Tennis, dann gehen sie auf eine Party. Und mein Bruder ist bei einem Freund.»
Tobi nickte. Sie schoben ihre Räder in die große Doppelgarage. Als Mara die Tür öffnete, die ins Innere des Hauses führte, kam ihnen Flocky bereits schwanzwedelnd entgegen. Er sprang an Mara hoch und ließ sich das Fell kraulen. Dannkam er zu Tobi, um ihn zu beschnüffeln. Flocky war ein kleiner Mischlingsrüde mit weißbraunem Fell, der Mara während eines Urlaubs in Italien zugelaufen war. Weil die Eltern ihr nicht hatten erlauben wollen, den Hund mit nach Hause zu nehmen, war Mara in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Jedenfalls hatte sie so getan. In Wahrheit war sie jeden Abend in die Hotelküche geschlichen, wo der Koch sie heimlich mit einer extragroßen Portion Spaghetti Bolognese versorgt und ihr für Flocky noch ein paar Fleischreste mitgegeben hatte. «Es war herrlich», hatte sie Tobi später erzählt und sich vor Lachen kaum halten können. «Ich hätte noch zwei Wochen so weitermachen können. Und als meine Eltern schließlich nachgegeben haben, war ich ein Kilo schwerer als vorher.»
Tobi schaute sich um. Im Inneren wirkte das Haus noch größer, als er es sich von außen vorgestellt hatte. Allein der Salon, in den ihn Mara jetzt führte, war so riesig, dass die kleine Wohnung im Gallus, in der sein Großvater und er lebten, bequem hineingepasst hätte.
Tobi fühlte sich unbehaglich und fremd. Als Mara ihn aufforderte, Platz zu nehmen, setzte er sich ganz vorne auf den Rand eines Sessels.
«Wir müssen zur Polizei gehen», sagte sie.
Tobi nickte, als habe er auf diesen Satz bereits gewartet. Er nickte, aber er war anderer Meinung. «Nein», sagte er, «müssen wir nicht.»
«Sag mal, spinnst du? Willst du, dass die Frau da draußen liegen bleibt und von irgendwelchen Tieren gefressen wird?»
«Es gibt keine Löwen und Hyänen in den Schwanheimer Dünen. Irgendwer wird
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