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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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nur die Frauen. Die Männer habe ich nicht beachtet. In der Nähe war ein Wohnheim, wo nur Frauen wohnten. Ich glaube, es waren alles Krankenschwestern. Sie kamen alle an mir vorbei. Und ich habe sie mir immer angeschaut. Und wenn eine besonders schön war und besonders freundlich aussah, habe ich mir vorgestellt, dass sie meine Mutter sei.»
    «Du hast dir eine Mutter ausgesucht?»
    «Ja. Dabei habe ich nicht nur auf ihre Gesichter gesehen. Sondern auf alles. Wie sie sich bewegten. Was sie für Kleidung trugen. Welche Schuhe sie anhatten. Ob mir ihre Haare gefielen. Ob sie einen schönen Hintern hatten. Oder einen schönen Busen. Aber am wichtigsten war mir, dass sie freundlich aussahen.»
    «Das ist nicht dein Ernst. Du hast ihnen als Sechsjähriger auf Busen und Hintern gestarrt.»
    «Nein. Ich habe nicht gestarrt. Ich habe sie mir angesehen. Es hat mich interessiert.»
    «Na, weißt du   …», sagte sie mit gespielter Empörung. Dann drehte sie sich auf die Seite und schaute Tobi an.
    «Eine der Frauen gefiel mir besonders gut», fuhr er nach einer Weile fort, «sie gehörte nicht zu den Krankenschwestern. Sie ging nicht in dieses Haus. Aber sie kam jeden Tag regelmäßig an meiner Stromstation vorbei. Sie trug einenPferdeschwanz und hatte schöne Beine. Und sie hat mir immer zugelächelt. Einmal bin ich ihr nachgegangen und habe herausbekommen, dass sie in einem Supermarkt an der Kasse arbeitete. Von da an bin ich ständig in diesen Laden gerannt und habe irgendeine Kleinigkeit gekauft. Ich musste mein Sparschwein schlachten, um mir das alles leisten zu können. Irgendwann hat sie es dann gemerkt. ‹Du bist ein netter Junge›, hat sie gesagt, ‹aber ich bin viel zu alt für dich.› Ich bin weggerannt und habe mich zwei Wochen nicht mehr blicken lassen. Aber ich konnte sie nicht vergessen. Schließlich habe ich sie eines Abends, als sie Feierabend hatte, abgepasst. Ich habe ihr eine Mark angeboten, wenn sie einen bestimmten Satz zu mir sagt.»
    «Du hast was gemacht? Du hast ihr Geld angeboten?»
    «Ja. Sie sollte die Mark bekommen, wenn sie zu mir sagt: ‹Tobi, mein Sohn, das hast du gut gemacht.›»
    «Und?»
    «Sie wollte das Geld nicht nehmen. Aber sie hat diesen Satz genau so gesagt, wie ich es mir gewünscht hatte: ‹Tobi, mein Sohn, das hast du gut gemacht.› Und anschließend hat sie mich auf die Wange geküsst.»
    «Mein lieber Mann», sagte Mara. «Du warst ja ein ganz schönes Früchtchen.»
    Und dann begann sie, mehrmals hintereinander ausgiebig zu gähnen. Während er schweigend neben ihr lag und weiter seinen Gedanken nachhing, merkte er, wie ihr Atem immer flacher und gleichmäßiger wurde. Als er leise ihren Namen sagte, hörte sie ihn schon nicht mehr. Sie war eingeschlafen. Er nahm seine Jacke und deckte sie damit zu.
    Dann hörte er das Geräusch eines Autos. Jemand versuchte, einen Motor zu starten. Tobi überlegte, woher das Geräusch kommen konnte. Die nächste Straße war zu weit weg. Jemand musste seinen Wagen auf einem der Landwirtschaftswegehinter den Dünen abgestellt haben, und jetzt sprang der Motor nicht mehr an. Tobi stand auf. Dann bückte er sich, hob seinen Pullover auf und zog ihn über. Man durfte in dem Naturschutzgebiet zwar nur den angelegten Bohlenweg benutzen, damit die Vögel nicht gestört wurden und niemand über die seltenen Gräser trampelte, aber er kümmerte sich nicht darum. Er folgte geradewegs dem Geräusch, das sich in gleichmäßigen Abständen wiederholte. Langsam kam er näher. Er durchquerte den kleinen Kiefernwald. Er sah einen Grauspecht, der ganz in der Nähe an einem Baumstamm saß. Tobi ging weiter. Der Vogel flog weg.
    Dann hatte der Junge das Ende des Wäldchens erreicht. Etwa dreißig, vierzig Meter entfernt sah er den Wagen am Ufer der großen Kiesgrube stehen. Ein Mann stieg aus und öffnete die Motorhaube. Tobi verstand nichts von Autos, aber er überlegte, ob er hingehen sollte, um dem Mann seine Hilfe anzubieten. Als er gerade loslaufen wollte, schaute der Mann in seine Richtung. Irgendetwas an seiner Haltung hielt Tobi davon ab, weiterzugehen. Statt ihm zuzuwinken oder irgendein anderes Zeichen zu geben, starrte der Mann ihn einfach nur an. Dann machte er eine rasche Bewegung, und im nächsten Moment hielt er etwas in der Hand. Tobi erkannte, dass es eine Pistole war.
    Der Mann hatte eine Pistole in der Hand und kam jetzt langsam auf ihn zu.
    Einen Moment war der Junge wie gelähmt, dann begriff er, dass er flüchten musste. Er musste

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