Die Braut im Schnee
rennen. Weg von dem Mann – und weg von Mara, die ganz in der Nähe ahnungslos auf ihrer Wolldecke lag und schlief.
Im selben Moment, als Tobi losspurtete, begann auch der Mann seinen Schritt zu beschleunigen.
Der Junge rannte, so schnell er konnte. Aber er war kein guter Läufer. Er war auch kein guter Schwimmer und keinguter Turner. Er war immer nur ein guter Radfahrer gewesen.
Er stürzte in Richtung der Straße, in der Hoffnung, dass dort ein Auto vorüberkommen würde. Aber jetzt hörte er schon die Schritte des Mannes hinter sich. Er rannte im weiten Bogen über die Wiesen, aber hier war er ungeschützt; die kümmerlichen Stämme der kleinen Apfelbäume würden ihm keine Möglichkeit bieten, sich zu verstecken oder wenigstens in Deckung zu gehen, wenn der Mann wirklich schoss. Er musste die Richtung ändern.
Aber die Schritte kamen näher.
Und Tobis Atem wurde schwerer, er merkte, wie er Seitenstechen bekam. Er umrundete den großen See, dessen Ufer mit Maschendraht eingezäunt war. Jetzt waren sie schon fast wieder dort angekommen, wo der Wagen des Mannes stand. Das Ufer des Sees machte eine Biegung. Für einen Moment war er den Blicken seines Verfolgers entzogen. Er begriff, dass er nur diese eine Chance haben würde, sich zu verstecken. Er nahm Anlauf, sprang an dem Zaun hoch und klammerte sich mit beiden Händen an dem Drahtgeflecht fest. Er zog sich hoch, wuchtete seinen Körper über den Zaun und achtete nicht auf seine aufgerissenen Handflächen. Auf der anderen Seite ließ er sich herunterfallen und rutschte die steile Böschung hinab. Er versuchte sich am Ufergebüsch festzuhalten, aber er rutschte immer weiter, bis er mit beiden Beinen im Wasser stand. Er duckte sich zwischen die kahlen Sträucher und trockenen Gräser, machte sich so klein, wie er nur konnte, und hielt den Atem an.
Er wartete. Er hörte, wie der Mann über ihm am Ufer auf und ab lief. Er hörte ihn keuchen. Der Mann suchte nach ihm.
Dann entfernten sich die Schritte. Aber was, wenn der Mann die Dünen durchkämmte? Was, wenn er Mara fand?Der Junge harrte noch eine halbe Minute aus, dann stieg er die steile Uferböschung wieder hinauf. Mehrmals rutschte er ab. Wieder kletterte er über den Zaun. Er sprang auf der anderen Seite herunter, lief geduckt über den Weg und suchte in einem Graben zwischen ein paar Brombeerhecken Deckung.
Vorsichtig lugte er aus seinem Versteck hervor. Er schaute sich um. Der Mann stand auf einem der Sandhügel am Rand des Kiefernwäldchens. Er hatte ihm den Rücken zugekehrt. Noch immer hielt er die Pistole in der Hand. Dann drehte er sich um und kam langsam in Tobis Richtung.
Aber Tobi war klar, dass er nicht noch einmal weglaufen konnte. Er hatte keine Kraft mehr. Er lag in dem Graben und zitterte am ganzen Körper. Wenn der Mann ihn gesehen hatte, würde er bald hier sein. Tobi würde nicht mehr fliehen. Er würde einfach abwarten.
Aber es passierte nichts. Als der Junge das nächste Mal den Kopf hob, sah er, dass der Mann sich in seinen Wagen gesetzt hatte. Zweimal versuchte er erfolglos zu starten, dann sprang der Motor an. Tobi hörte, wie sich das Auto entfernte. Er kroch aus seinem Versteck und versuchte noch, das Nummernschild zu erkennen. Aber es war zu spät. Die Reifen wirbelten Staub auf dem trockenen Feldweg auf, und der Wagen war bereits zu weit entfernt.
Langsam trottete der Junge zurück. Seine Schuhe und Strümpfe waren nass. Seine Handflächen schmerzten. Und erst jetzt bemerkte er, dass seine Hose nicht nur nass, sondern auch zerrissen war. Er blutete. Die Dornen hatten die Haut seiner Beine zerkratzt. Er hoffte, dass Mara immer noch auf ihrer Decke lag und dass sie immer noch schlief. Dass sie von alldem nichts mitbekommen hatte.
Aber als er an ihrem Lagerplatz ankam, war die Decke leer. Mara war verschwunden. Dann hörte er sie schreien.
Zwischen den Bäumen kam sie auf ihn zu. Sie schrie,wie er noch nie einen Menschen hatte schreien hören. Sie wankte. Ihr Gesicht war bleich. Immer wieder zeigte sie hinter sich in das Dickicht des Wäldchens. Als sie fast bei ihm war, streckte sie die Arme nach ihm aus. Dann sackten ihr die Beine weg.
DREI
«Mara, bitte, du musst aufstehen. Wir müssen weg. Hast du gehört. Er könnte zurückkommen. Wir müssen hier weg. Der Mann darf uns nicht finden.»
Mara lag auf der Decke und wimmerte. Sie war blass, ihre Augen flackerten.
Sie erinnerte sich noch an die Geschichte, die Tobi ihr erzählt hatte – wie er als Kind auf dem
Weitere Kostenlose Bücher