Die Braut im Schnee
drohte diese Vereinbarung zu platzen.
«Na kommen Sie», sagte der Mann. «Ich lege auch noch was drauf.»
Sie überlegte. Wenn sie jetzt nochmals ablehnte, würde sie ihn womöglich verprellen, und er würde das Treffen ganz absagen. Dann hätte sie nicht nur Geld, sondern auch Zeit verloren.
«Wie viel?», fragte sie.
«Sagen wir: fünfzig?» In der Stimme des Mannes war eine kleine Spur von Unsicherheit zu erkennen, die sie ausnutzen wollte.
«Hundert», erwiderte sie bestimmt. «Zusätzlich zu dem, was wir sonst noch vereinbaren.»
Der Mann lachte. «Na also. Gut, sagen wir hundert als Freiluftaufschlag. Daran soll es nicht scheitern.»
«Bis zwölf werde ich es aber wohl nicht schaffen.»
«Gut, das ist mir recht. Sagen wir also um halb eins.»
Dann beschrieb er ihr, wo sie hinkommen sollte.
Die Schwanheimer Dünen waren ein Naturschutzgebiet am südwestlichen Rand der Stadt. Wenn man hier spazieren ging, konnte man den Eindruck gewinnen, sich in einer Landschaft irgendwo an der Küste zu befinden. Bis vor zweihundert Jahren war das gesamte Gebiet bewaldet gewesen. Während der großen Stürme im späten Herbst des Jahres 1800 war ein großer Teil der Bäume zerstört worden. Man rodete den Wald und begann Kirschbäume zu pflanzen, die aber während einer langen Trockenzeit verdorrten. Der sandige Boden war mehr und mehr dem Wind ausgesetzt, und bald schon brachten die starken Verwehungen eine Dünenlandschaft hervor, die von den Schäfern der Umgebung als günstiges Weideland entdeckt wurde. Die Schafe mochten die mageren Gräser und trugen dazu bei, dass sich hier eine ganz eigene Tier- und Pflanzenwelt ansiedelte. Es gab seltene Flechten und Silbergräser,und in den zahlreichen kalkhaltigen Kiesgruben gediehen die Armleuchteralgen. Grauspecht und Neuntöter bauten in den Dünen ihre Nester, der Abendsegler und die Wasserfledermaus kamen als Gäste, um Beute zu machen.
Andrea Lorenz fuhr stadtauswärts am Schwanheimer Ufer entlang. Als sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, sah sie rechts den Friedhof liegen. Sie drosselte die Geschwindigkeit und fuhr jetzt nur noch im Schritttempo. Nachdem sie unter der großen Brücke hindurchgekommen war, endete die Straße. Sie stand auf einem einsamen Wendeplatz, der auf der einen Seite von Gestrüpp und auf der anderen von ein paar Gärten begrenzt wurde. Niemand war zu sehen. Alles wirkte unwirtlich und verlassen. Der Asphalt war brüchig, und überall wucherte das Unkraut. Irgendwer hatte ein paar alte Autoreifen und einen rostigen Kanister in die Büsche geworfen.
Sie parkte den roten Passat so, dass sie sehen konnte, wenn sich ein anderes Fahrzeug dem Platz näherte. Sie stellte den Motor ab und wartete. Sie war zu früh. Bis zum vereinbarten Zeitpunkt war es noch fast eine Viertelstunde. Doch als nach fünf Minuten immer noch niemand zu sehen war, bereute sie bereits, sich auf den Vorschlag des Mannes eingelassen zu haben. Ihr wurde warm. Die Sonne stand hoch am Himmel und tauchte den Platz in schattenloses Licht. Sie öffnete das Schiebedach, dann schaltete sie das Autoradio ein und ließ es leise laufen. Das Geplapper der Moderatorin und die Musik beruhigten sie.
Dann hörte sie das Geräusch eines Motors. Ein weißes Wohnmobil kam langsam näher. Die Scheiben waren getönt, sodass sie nicht erkennen konnte, wer sich im Innern des Fahrzeugs befand. Etwa zwanzig Meter von ihr entfernt kam der Wagen zum Stehen. Eine halbe Minute lang geschah nichts, dann wurden fast gleichzeitig beide Türen geöffnet.Ein Mann und eine junge Frau stiegen aus. Sie liefen aufeinander zu, dann schlangen sie ihre Arme umeinander und begannen sich zu küssen. Schließlich zog die Frau ihren Pullover aus und warf ihn auf den Fahrersitz. Das Paar kam jetzt Händchen haltend direkt auf den Passat zu. Andrea Lorenz drehte ihren Kopf zur Seite und tat, als würde sie etwas im Handschuhfach suchen. Als sie in den Rückspiegel schaute, sah sie, wie die beiden sich noch einmal lachend zu ihr umschauten und schließlich in Richtung Mainufer verschwanden.
Sie schaute fast jede Minute auf die Uhr. Als der Mann auch fünf Minuten nach halb eins noch nicht erschienen war, kam sie zu der Überzeugung, dass er nicht mehr auftauchen würde. Sie überlegte, was sie machen sollte. Zwischendurch nach Hause zu fahren würde sich nicht lohnen. Kaum dort angekommen, würde sie gleich wieder losmüssen. Ihre nächste Sitzung begann um 14.30 Uhr. Bis dahin waren es noch fast
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