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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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zwei Stunden. Die Kundin wohnte auf dem Lerchesberg. Andrea Lorenz konnte dort anrufen und fragen, ob sie auch früher kommen dürfe. Aber dann fiel ihr ein, dass die Frau ausdrücklich um einen Nachmittagstermin gebeten hatte.
    Sie beschloss, die Zeit zu überbrücken und, da sie nun einmal hier war, sich die Schwanheimer Dünen anzuschauen. Sie hatte schon mehrfach darüber in der Zeitung gelesen, aber obwohl sie schon fast zwanzig Jahre in Frankfurt lebten, waren sie noch nie auf die Idee gekommen, hierher zu fahren. Sie zog den Stadtplan hervor und versuchte, sich zu orientieren. Bevor sie den Wagen verließ, schaute sie ein letztes Mal auf die Uhr. Es war 12.41   Uhr.
    Sie überquerte den Wendeplatz und ging auf den schmalen Hohlweg zu, der zwischen den Gärten und den Brombeerbüschen hindurch- und direkt auf das Gebiet der Düne zuführte. Sie hatte erst wenige Meter auf dem Weg zurückgelegt, alssie meinte, hinter sich ein Geräusch zu hören. Sie blieb stehen und lauschte. Dann drehte sie sich rasch um, aber es war nichts zu sehen.
    Sie marschierte weiter. Sie merkte, wie sie stärker zu schwitzen begann. Dann hielt sie erneut inne. Wieder hatte sie etwas gehört. Und wieder kam es von hinten, diesmal aber schon deutlich näher. Es klang wie ein Rascheln und ein Schnaufen. Jetzt war sie sicher. Da war etwas. Dort war jemand. Am liebsten wäre sie zurückgelaufen zu ihrem Wagen, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Aber wenn sie umkehrte, käme sie direkt auf das Geräusch zu. Also hatte sie keine Wahl. Sie musste weiter in die Richtung, die sie einmal eingeschlagen hatte, weiter in Richtung der Dünen und Kiesgruben, die sie als kleine blaue Flecken auf dem Stadtplan gesehen hatte. Weiter in Richtung des Mainufers, wo sicher Spaziergänger waren, zahllose Spaziergänger, die diesen ersten schönen Tag des Jahres nutzten.
    Während ihre Angst wuchs, versuchte sie gleichzeitig, sich zu beschwichtigen. Vielleicht ist es nur ein Tier, dachte sie. Natürlich, es musste ein Tier sein, das sich da in dem dichten Gestrüpp neben ihr bewegte. Vielleicht eine Katze, die hier nach Mäusen oder Vogelnestern suchte. Vielleicht auch ein streunender Hund, der einem der Gartenbesitzer gehörte. Oder eine Ratte. Sie hatte immer Angst vor diesen Viechern gehabt, seit ihr als Kind einmal eines davon über den Fuß geflitzt war. Aber jetzt hoffte sie nichts so sehr, als dass es eine Ratte sein möge.
    Sie hatte das Ende des Hohlwegs schon fast erreicht, als sie abrupt stehen blieb. Da war es wieder gewesen. Diesmal kam das Geräusch aus der anderen Richtung. Es hatte sie überholt. Es kam von vorne. Es war keine Ratte. Ratten schnauften nicht.
    Sie drehte sich um. Sie wollte zurückrennen. Aber bevorsie den ersten Schritt machen konnte, hörte sie eine Stimme hinter sich.
    «Nein», sagte die Stimme. Und gleichzeitig legte sich ihr ein Arm von hinten um den Hals. «Nein.»
    Sie zappelte. Sie versuchte, sich loszureißen. Sie schrie. Aber der Arm drückte einfach ein bisschen fester zu. Nicht so fest, dass Andrea Lorenz gleich starb, aber fest genug, dass sie für kurze Zeit das Bewusstsein verlor.

ZWEI 
    Mit einem Mal blieben die Leute wieder auf den Bürgersteigen stehen, um mit ihren Nachbarn zu plaudern. Die Stadt hatte sich über Nacht verändert, die Fenster wurden geöffnet, und schon sah man die ersten Mädchen mit nackten Armen durch die Straßen laufen. In den Parks saßen die Rentner auf den Bänken, legten die Köpfe in den Nacken und wärmten ihre alten Gesichter. Die Boule-Spieler tauchten wieder auf; und einige mutige Café-Besitzer stellten bereits ihre Tische auf die Straße. Der Boden unter den Bäumen war gesprenkelt vom Sonnenlicht, das durch die immer noch kahlen Äste fiel. Es war, als sei das Leben über Nacht ein wenig leichter geworden. Es war, als könne es der Frühling nicht mehr abwarten.
    Tobi öffnete leise die Tür zum Nachbarzimmer, wo sein Großvater mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag.
    «Komm ruhig rein. Ich habe nur ein wenig geruht.»
    «Wie geht es dir?», fragte der Junge.
    «Besser», sagte der alte Mann, dessen Stimme müde klang.
    «Das sagst du immer.»
    «Wenn du bei mir bist, geht es mir gut.»
    Der Junge lächelte. Er war schlank und hatte lange Wimpern. Er trug seine schwarze Lieblingsjeans, ein rotes T-Shirt und rote Turnschuhe.
    «Die Sonne scheint. Soll ich die Gardinen öffnen?»
    Der Großvater nickte.
    «Du willst zu ihr, nicht wahr», sagte er. «Du hast dich fein

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