Die Braut im Schnee
Offenbar hatte sie unseren Besuch bis dahin nicht bemerkt. Sie begrüßte uns freundlich, aber auch ihr war unsere Gegenwart unangenehm.»
«Und», fragte Marthaler. «Was geschah weiter?»
«Nichts», sagte Heinrich Wolfram. «Weiter geschah nichts. Es war das erste und einzige Mal, dass wir Gabriele Hasler gesehen haben. Wir haben Stefanie daraufhin zur Rede gestellt. Wir wollten wissen, was in der Wohnung vorgeht. Und wir haben sie gebeten, sich von ihrer Mieterin zu trennen.»
«Aber das wollte Ihre Tochter nicht?»
«Nein. Sie weigerte sich sogar, über den Vorfall mit uns zu reden. Verstehen Sie, es war die erste große Auseinandersetzungmit unserer Tochter. Für ein paar Wochen sah es sogar so aus, als würde es darüber zwischen uns zum Zerwürfnis kommen. Bis wir schließlich nachgaben und das Thema nicht mehr ansprachen. Seitdem haben wir nie mehr über Gabriele Hasler geredet. Stefanie erzählte nichts, und wir fragten nichts. Das Thema war tabu. Und so ist es bis heute geblieben.»
Marthaler nickte. Er wollte noch etwas wissen, nämlich welche Vermutungen Stefanie Wolframs Eltern damals angestellt hatten. Was sie über den Vorfall in der Wohnung ihrer Tochter dachten. Aber er kam nicht mehr dazu, seine Frage zu stellen. Denn in diesem Moment läutete sein Mobiltelefon.
«Was ist los?», sagte er. «Ich bin mitten in einer Zeugenbefragung.»
Es war Kerstin Henschel. Sie klang aufgeregt. «Robert, du musst kommen. Es ist etwas passiert. Wir haben einen Notruf erhalten.»
«Was für einen Notruf?»
«Es hat einen anonymen Anruf unter 110 gegeben. Jemand sagt, er hat eine Frauenleiche in der Schwanheimer Düne entdeckt.»
«Was heißt jemand?», fragte Marthaler. «Was für eine Frauenleiche?»
Im selben Moment merkte er, dass er einen Fehler begangen hatte. Er hätte dieses Wort nicht in Gegenwart der Eltern von Stefanie Wolfram wiederholen dürfen. Kaum hatte er es ausgesprochen, starrten die beiden ihn voller Entsetzen an. Er hob die Hand, um sie zu beruhigen, aber er wusste selbst, dass sie das kaum beschwichtigen konnte.
«Wir wissen noch nichts», sagte Kerstin Henschel. «Nur das, was ich dir gesagt habe. Der Anruf ist erst vor drei Minuten eingegangen.»
«Wer hat angerufen?»
«Jemand, der seine Stimme verstellt hat. Ein Mädchen. Ich habe das Band noch nicht gehört. Trotzdem meinte die Telefonistin, dass es ernst klang, sehr ernst.»
«Gut», sagte Marthaler. «Ich mache mich sofort auf den Weg.» Er steckte das Telefon ein und versuchte dem Ehepaar zu erklären, dass es einen Notfall gegeben habe, dass er wegmüsse.
«Nein», sagte Heinrich Wolfram mit fester Stimme und hielt Marthaler am Ärmel seines Jacketts fest. «Sie gehen jetzt nicht. Erst will ich wissen, was passiert ist.»
Marthaler schüttelte den Kopf. «Nichts», sagte er. «Ich weiß nichts. Es ist ein Notruf eingegangen.»
«Was für ein Notruf? Sie haben von einer Frauenleiche gesprochen.»
«Hören Sie, ich weiß nichts. Und meine Kollegen wissen auch nichts. Es hat einen anonymen Anruf gegeben, mehr nicht.»
«Aber es ist eine tote Frau gefunden worden?», fragte Heinrich Wolfram.
Marthaler nickte.
«Sagen Sie mir, ob es meine Tochter ist. Hören Sie, ich will die Wahrheit wissen.»
Marthaler befreite sich aus dem Griff des alten Mannes. «Ich weiß es nicht, Herr Wolfram», sagte er. «Aber ich verspreche Ihnen, dass sich jemand um Sie kümmern wird. Ich werde das veranlassen. Und ich werde Ihnen so bald wie möglich Bescheid geben.»
Marthaler schaute den beiden Alten in die Gesichter, aus denen bereits jede Hoffnung gewichen war. Sie glaubten ihm nicht. Sie vermuteten, er wolle sie nur beruhigen, um möglichst rasch und unbehelligt von ihren Fragen das Weite suchen zu können.
Noch bevor er den Motor startete, wählte er die Nummer der Zentrale. Er nannte die Adresse von Stefanie Wolframs Eltern. Sie hatten ein halbes Jahr vergeblich auf Nachricht von ihrer Tochter gewartet. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Und heute, am Tag, da sie endlich zurückkommen wollte, wurden sie damit konfrontiert, dass man eine unbekannte Frauenleiche gefunden hatte. Er gab Anweisung, dass man umgehend einen Psychologen zu ihnen schickte.
VIER
Es waren alle Kräfte im Einsatz. Das gesamte Gebiet um die Schwanheimer Düne herum war bereits weiträumig abgesperrt worden. Aber um die Absperrungsbänder herum hatten sich schon jetzt Schaulustige versammelt. Am Friedhof, unter der Brücke der Stadtautobahn und auf dem kleinen
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