Die Braut im Schnee
Wendeplatz standen Streifenwagen. Es war Hundegebell zu hören. Gerade war ein Polizeijeep angekommen, in dessen Anhänger sich die Meute der Hundestaffel befand. Gleich würden die Führer mit ihren Tieren ausschwärmen, um die Weiden und die Streuobstwiesen der Umgebung zu durchkämmen.
Als Marthaler das Polizeiaufgebot sah, wusste er, dass das Mädchen am Telefon die Wahrheit gesagt hatte. Er stieg aus seinem Wagen. Er sah Sven Liebmann auf sich zukommen.
«Robert, gut, dass du kommst. Herrmann ist nicht aufzutreiben, also habe ich die Einsatzleitung übernommen.»
«Herrmann hat gestern seine Kur angetreten», sagte Marthaler.
«Auch gut», sagte Liebmann. «Ich denke, du solltest …»
Marthaler unterbrach ihn. «Weiß man, wer sie ist?», fragte er.
«Wir sind uns noch nicht ganz sicher. Dort drüben steht ein Frankfurter Passat. Wir haben eine Halteranfrage durchgeführt und …»
«Weiß man, wer sie ist, habe ich gefragt. Ich muss wissen, ob es Stefanie Wolfram ist. Ja oder nein?»
«Robert, bitte. Lass mich ausreden. Wir haben einen Passat, der einer Frau namens Andrea Lorenz gehört. Es könntesein, dass sie das Opfer ist. Ich habe bei ihr zu Hause angerufen, aber ihr Mann …»
«Entschuldige, dass ich dich schon wieder unterbreche», sagte Marthaler. «Ich muss als Erstes einen dringenden Anruf erledigen.»
Er ging ein paar Meter weiter, um halbwegs ungestört telefonieren zu können. Er wählte die Nummer von Stefanie Wolframs Eltern. Ihr Vater meldete sich umgehend.
«Ist Ihre Tochter schon angekommen?», fragte Marthaler.
«Nein», sagte Heinrich Wolfram. «Heißt das, dass die Frau, die Sie gefunden haben … dass sie nicht …»
«Das heißt noch gar nichts. Das heißt nur, dass es unwahrscheinlich ist. Wir haben das Opfer noch nicht endgültig identifiziert. Aber es gibt eine Vermutung. Und diese Vermutung weist in eine andere Richtung.»
Er meinte, die Erleichterung des alten Mannes durch das Telefon hindurch spüren zu können. «Danke, Herr Hauptkommissar. Haben Sie vielen Dank.»
«So», sagte Marthaler, nun wieder an seinen Kollegen Sven Liebmann gewandt, «jetzt bist du dran. Mit was haben wir es zu tun? Gibt es irgendwelche Gemeinsamkeiten zum Fall Hasler?»
Aber er meinte die Antwort bereits am Gesicht Liebmanns ablesen zu können.
«Dasselbe Muster», sagte Liebmann, «du wirst es gleich selbst sehen. Was ich dir erzählen wollte: Ich habe bei der Halterin des roten Passat angerufen. Zuerst war ihr Sohn dran. Er hat mir erzählt, dass er seine Mutter noch am Mittag in der Nähe seiner Schule gesehen hat. Dann habe ich mit dem Mann gesprochen …»
«Du hast ihm doch nicht etwa erzählt …»
«Robert, ich bin kein Idiot. Ich habe ihm gesagt, dass wirseine Frau im Zuge polizeilicher Ermittlungen sprechen müssen.»
«Und?»
«Er sagte, sie habe noch Termine.»
«Was hat dann ihr Wagen hier zu suchen? Was kann man hier arbeiten?»
«Eben. Andrea Lorenz arbeitet als eine Art Masseurin und Kosmetikvertreterin für eine Firma namens ‹Wellness-Medico›. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum sie sich während ihrer Arbeitszeit hier aufhalten sollte. Ich habe mir die Nummer ihres Handys geben lassen. Es ist zwar eingeschaltet, aber es meldet sich niemand.»
«Habt ihr den Wagen schon untersucht?»
«Nein, ich wollte warten, bis du dein Okay gibst. Immerhin kann es noch sein, dass die Frau hier irgendwo spazieren geht.»
«Das Risiko müssen wir eingehen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir müssen Schilling Bescheid sagen. Aber bevor seine Leute damit anfangen, den Wagen auf den Kopf zu stellen, will ich ihn mir selbst ansehen.»
«Gut», sagte Liebmann. «Trotzdem möchte ich dich bitten, dass du dir zunächst die Frau anschaust.»
Marthaler nickte. Er folgte seinem Kollegen auf dem schmalen Pfad, den die Männer der Spurensicherung mit dem rot-weißen Absperrungsband markiert hatten. Die ermittelnden Beamten sollten zum Fundort der Leiche gelangen können, ohne rechts und links im Gelände herumzulaufen und möglicherweise Spuren zu zerstören.
Sie liefen über den sandigen Boden der Düne, der von trockenen Gräsern bedeckt war. Als sie am Anfang des Kiefernwäldchens angekommen waren, blieb Marthaler stehen. Er schaute sich um, sah zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Die Stadt und der Fluss waren nah. Trotzdem war man hier in einer anderen Welt. Abgeschieden, unwirtlich und trotzdem schön. Unter anderen Umständen,
Weitere Kostenlose Bücher