Die Braut im Schnee
schätze mal: gut eine Stunde. Länger wohl nicht.»
«Dann sind wir diesmal also dichter dran.»
«Ja. Und hoffentlich macht ihr was aus diesem Vorsprung. Hoffentlich hat das bald ein Ende.»
«Sonst noch was?»
Thea Hollmann schüttelte den Kopf. «Alles Weitere später. Alle anderen Untersuchungen führe ich durch, sobald ich das Opfer auf dem Tisch habe. Also noch heute Abend. Wird wohl eine Nachtschicht werden. Ich verspreche dir, du bekommst umgehend Nachricht.»
Sie war bereits dabei, sich zu entfernen, als Marthaler ihr nachrief: «Und grüß bitte Füchsel von mir.»
Sie drehte sich noch einmal um und sah ihn an. Dann lächeltesie. «Ja, das mache ich. Er hat mich morgen Abend zum Essen eingeladen. Du hattest Recht, er ist wirklich ein ganz passabler Kerl.»
Marthaler ging zurück zum Wendeplatz. Inzwischen hatten noch mehr Einsatzfahrzeuge den Tatort erreicht. Über ihnen, auf der Brücke der Stadtautobahn, war der Verkehr zum Erliegen gekommen. Die Schaulustigen standen in einer langen Reihe am Brückengeländer, wo sie den besten Ausblick auf das Naturschutzgebiet hatten. Außerhalb der Absperrung drängten sich jetzt die Journalisten. Als sie ihn kommen sahen, riefen sie Marthaler etwas zu. Doch der schüttelte nur den Kopf und winkte ab.
Walter Schilling stand neben der Fahrertür des roten VW Passat. Sie hatten den Wagen bereits geöffnet, hatten aber mit der Untersuchung noch gewartet. Der Chef der Spurensicherung reichte Marthaler ein paar durchsichtige Plastikhandschuhe. Den Fahrersitz hatte Schilling mit einer dünnen Plane abgedeckt.
«Es wird nicht lange dauern», sagte Marthaler. «Ich möchte nur eine Vorstellung davon bekommen, wie die Frau in ihrem Wagen gesessen hat. Es dürfte ihr letzter Moment gewesen sein, bevor sie ihren Mörder getroffen hat. Ich beeile mich.»
«Darum möchte ich bitten», erwiderte Schilling. Er kannte die Eigenart des Hauptkommissars, der gerne als Erster einen Tatort betrat und der sich dort dann am liebsten alleine aufhielt. «Und tu mir einen Gefallen: Fass so wenig wie möglich an!»
«Ja», sagte Marthaler, «ich weiß. Du sagst es mir jedes Mal. Und wenn es nach dir ginge, müsste ich am besten sogar das Atmen einstellen.»
Schilling lächelte müde. «Atmen darfst du. Aber halt deine Füße still. Du schuffelst nämlich.»
«Ich tue was?»
«Du schuffelst. Du scharrst mit den Füßen. An all deinen Arbeitsplätzen ist nach wenigen Wochen der Teppich durchgescheuert. Sag nur, das hast du noch nicht gemerkt?» Schilling wartete, bis der andere auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. Dann schloss er die Tür von außen.
Marthaler versuchte sich vorzustellen, wie der Platz ausgesehen hatte, bevor das Großaufgebot der Einsatzkräfte ihn besetzt hatte. Wahrscheinlich war er leer gewesen. Andrea Lorenz war mit ihrem Wagen gekommen, aber sie hatte nicht einfach irgendwo geparkt. Sie hatte gewendet und ihr Auto so hingestellt, dass sie sehen konnte, wenn ein anderes Fahrzeug oder ein Fußgänger sich von der Straße näherte. Aber was hieß das? Bedeutete es, dass sie jemanden erwartete, den sie nicht kannte? Was hatte sie hier gewollt an einem Wochentag um die Mittagszeit? Wen hatte sie treffen wollen? Oder war alles nur ein Zufall? Sie hatte zufällig ein wenig Zeit gehabt, hatte einen Spaziergang gemacht und war dabei zufällig ihrem Mörder begegnet. Marthaler bezweifelte das. Es passte nicht. Ein solcher Täter überließ nichts dem Zufall. Er wartete nicht einfach irgendwo, bis irgendeine Frau vorüberkam, um dann zuzuschlagen. Er ging geplant vor. Er wollte bei dem, was er tat, das größtmögliche Vergnügen haben. Ein Vergnügen, für das jemand sterben musste.
Marthaler lehnte sich zurück. Er ließ die Arme sinken. Seine Hände hingen zu beiden Seiten des Sitzes herab. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Plötzlich berührten seine Finger etwas. Dort, wo man den Sicherheitsgurt einrasten ließ, war etwas. Er zog es hervor. Es war ein Notizbuch, ein kleiner, in dunkelblaues Leder gebundener Kalender. Er schlug das Datum des heutigen Tages auf. Es waren drei Termine verzeichnet. Jedes Mal stand dort eine Uhrzeit und ein Name. Nur bei dem mittleren Termin stand auch eine Adresse. Umzwölf Uhr war die Kosmetikvertreterin Andrea Lorenz in der Darmstädter Landstraße verabredet gewesen. Der Name, der dort stand, lautete Gundlach.
Diesmal kriegen wir dich, dachte Marthaler. Diesmal entkommst du uns nicht.
«Verdammter Mist, es gibt
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