Die Braut im Schnee
dachte Marthaler, hätte er sich hier wohl fühlen können. Nun war auch dieser Platz, wie so viele andere in der Stadt, für ihn durch ein Verbrechen markiert. Egal, was er gleich zu sehen bekommen würde, er würde nie wieder hierher zurückkehren können, ohne daran denken zu müssen.
Dann wurde es dunkler. Sie liefen zwischen den Bäumen entlang, die jetzt dichter beieinander standen. Manchmal streifte er mit seinem Handrücken die schuppige Rinde einer Kiefer.
Sven Liebmann blieb stehen. Er drehte sich kurz zu Marthaler um und wies mit dem Kopf in Richtung der kleinen Lichtung, die sie jetzt erreicht hatten. Es war eine Senke, die von dichtem Gestrüpp umwuchert war, eine flache Sandgrube, die sich zwischen den Bäumen erstreckte. Das Absperrungsband endete hier. Die Kollegen der Dokumentation waren bereits dabei, alle Einzelheiten des Fundorts festzuhalten. Es wurde fotografiert und gefilmt. Marthaler erkannte Thea Hollmann. Die Rechtsmedizinerin stand zehn Meter von ihm entfernt und sprach leise in ein Diktiergerät. Sie schaute zu ihm rüber und nickte ihm zur Begrüßung zu, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Marthaler hatte damit gerechnet, sie hier zu treffen, und ihm war ein wenig unbehaglich gewesen bei dem Gedanken. Aber jetzt spürte er keinerlei Befangenheit mehr.
Mit einem Blick erfasste er die Situation. Auf dem Boden kniete die Leiche einer Frau. Diesmal sah er zuerst ihr Gesicht. Es war entstellt wie das von Gabriele Hasler. Dieselben Verfärbungen in den Augen und auf der Haut. Der Kopf lag seitlich auf dem Boden, und das Opfer schien den Betrachter anzuschauen. Wieder war der Unterkörper der Toten entblößt und ihr Hintern in die Höhe gestreckt.
«Gebt mir eine Minute», sagte Marthaler. «Länger brauche ich nicht.»
Es herrschte dieselbe Atmosphäre, die Marthaler von so vielen Tatorten kannte. Diese Mischung aus Lähmung und geschäftigem Treiben. Er hörte das Gemurmel der Kollegen, manchmal ein paar verhaltene Rufe, das Knarzen der Funkgeräte und das Motorengeräusch des Stromgenerators.
Obwohl um ihn herum zahllose Polizisten ihrer Arbeit nachgingen, hatte er in diesem Moment das Gefühl, mit dem Opfer allein zu sein. Hier stand er, und dort kniete eine halb nackte Frau, die bis vor kurzem noch gelebt hatte. Der Anblick des Opfers erschütterte ihn nicht wie beim ersten Mal, nicht wie vor drei Monaten, als sie Gabriele Hasler im Hof vor ihrem Haus gefunden hatten. Aber etwas anderes traf ihn mit ganzer Wucht. Er merkte, dass er sich schuldig fühlte. Dass er diesen Tod hätte verhindern müssen und vielleicht auch hätte verhindern können. Nie zuvor hatte er so sehr den Eindruck, versagt zu haben. Er hatte sich ablenken lassen. Er hatte sich von seinen Vorgesetzten, von Herrmann und Eissler, daran hindern lassen, den Mord an der toten Zahnärztin mit ganzer Kraft aufzuklären. Er hatte aufgegeben. Wäre er stattdessen seiner Überzeugung gefolgt, hätten sie den Fall womöglich längst gelöst, und es hätte nicht ein weiterer Mord geschehen müssen.
Er schloss für einen Moment die Augen. Er tat etwas, das er noch nie getan hatte. Er hielt eine stille Zwiesprache mit dem Opfer. Er bat die Tote um Verzeihung für seine Unterlassungen. Er versprach ihr, dass nichts, dass keine Vorschrift und kein Befehl ihn davon abhalten würden, ihren Mörder zu finden und zu überführen.
Als er die Augen wieder öffnete, hoffte er, dass den Umstehenden entgangen war, was er gerade getan hatte. Aber als er die besorgte Miene sah, mit der Thea Hollmann ihn anschaute, hatte er den Eindruck, sie wisse Bescheid.
Er ging zu ihr. Sie nickte. «Du musst dich nicht schämen», sagte sie. «Ich kenne das.»
«Wolltest du nicht, dass wir uns wieder siezen?», fragte Marthaler.
Sie stutzte. «Stimmt, du hast Recht. Andererseits: Es spricht eigentlich nichts dagegen, dass wir es beim kollegialen Du belassen, oder?» Dann taxierte sie ihn. «Du hast abgenommen, nicht wahr? Wir haben uns lange nicht gesehen.»
«Ja. Ich treibe regelmäßig Sport.»
«Es steht dir gut.»
Marthaler nickte. Dann zeigte er vage in Richtung des Leichnams. «Was kannst du mir sagen?»
«Sie ist geknebelt und gefesselt worden. Und wie es aussieht, hat man sie über einen längeren Zeitraum immer wieder stranguliert. Sie hat sich gewehrt, aber letztendlich hatte sie keine Chance.»
«Also?»
«Es ist exakt die gleiche Scheiße wie schon beim ersten Mal, wenn das deine Frage war.»
«Wie lange ist sie schon tot?»
«Ich
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