Die Braut im Schnee
Suspendierung wieder mit dem Fall der ermordeten Zahnärztin zu tun hatte. Mitte Januar hatte Gabriel Eissler ihm mitgeteilt, dass er wieder arbeiten dürfe. Während die Fahndung nach Helmut Drewitz weiterlief, hatte man ihm andere Fälle zugeteilt. Im Ostend war ein Rentner erstochen in seiner Wohnung gefunden worden. Es hatte sich herausgestellt, dass der siebenundzwanzigjährige Enkel den Mord begangen hatte, um andie Ersparnisse seines Großvaters zu gelangen. Dann hatte es im Gutleutviertel eine nächtliche Schießerei auf offener Straße gegeben, bei der zwei junge Türken ums Leben gekommen waren. Anfangs hatten die Ermittler vermutet, dass es um Drogengeschäfte gegangen war, bis Marthaler herausgefunden hatte, dass die beiden Opfer zu zwei miteinander verfeindeten Familien gehörten, deren Angehörige aber bislang jede Aussage verweigerten.
Schließlich hatte ihn vor einer Woche der Anruf von Stefanie Wolframs Vater erreicht.
Marthaler mochte die beiden Alten, wie sie da vor ihm auf ihrer Gartenbank saßen, sich bei der Hand hielten und ihn sorgenvoll anschauten. Vor sieben Tagen hatten sie eine Postkarte aus Neuseeland erhalten, auf der Stefanie Wolfram ihre Rückkehr für den heutigen Tag angekündigt hatte. Die Karte zeigte eine grüne Hügellandschaft an der Küste. In der Ferne sah man eine Schafherde, ein paar Bäume und über allem den wolkenlosen Himmel. «Bin am 16. Februar zurück. Freue mich auf euch. Liebe Grüße, Steff.» Das war die ganze Nachricht, die ihre Tochter ihnen hatte zukommen lassen.
Stefanie war das späte und unverhoffte Glück ihrer Eltern gewesen. Sie hatten sich viele Jahre ein Kind gewünscht, aber erst als Anneliese Wolfram bereits die vierzig überschritten hatte, war sie endlich schwanger geworden. Sie hatten ihre Tochter verwöhnt und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Da Stefanies Vater mit seinem Baugeschäft zeitweise viel Geld verdient hatte, konnten sie ihr ein Pferd kaufen, ihr die besten Privatschulen finanzieren und sie für ein Jahr in den USA studieren lassen. Stefanie hatte sich durch Liebe zu ihren Eltern revanchiert, hatte aber nie verstanden, welche Qualen sie ihnen bereitete, wenn sie immer wieder einfach verschwand und wochenlang wegblieb, ohne sich bei ihnen zu melden. Irgendwann tauchte sie dann gut gelaunt wiederauf, brachte kleine Geschenke mit und schwor, dass sie das nächste Mal Bescheid sagen werde, wo sie sei und wann sie zurückkomme. Als sie mit dem Studium fertig gewesen war, hatten sie ihr das Haus in Darmstadt überlassen, das ihnen zu groß geworden war, und hatten sich selbst ein kleineres Haus in Sprendlingen gekauft, wo sie seitdem lebten. Sie hatten gehofft, ihre Tochter werde heiraten, Kinder bekommen und endlich sesshaft werden.
Jetzt lag die abgegriffene Postkarte, die sie in den vergangenen Tagen wieder und wieder gelesen und angeschaut hatten, vor ihnen auf dem Tisch. Und bei ihnen saß ein Hauptkommissar der Kriminalpolizei, der ihnen noch einmal bestätigte, was sie seit langem wussten, aber noch immer nicht verstanden: dass ihre Tochter in großer Gefahr war. So mischte sich in die Freude über die bevorstehende Heimkehr die Furcht, dass jemand ihr etwas antun könnte. Jemand, der aus welchen Gründen auch immer versucht hatte, sie zu töten, und der das wieder versuchen könnte.
Sie hatten im letzten halben Jahr, seit Stefanie unterwegs war, jeden Tag auf den Postboten gewartet und gehofft, er würde ihnen eine Nachricht bringen. Jedes Mal, wenn das Telefon geläutet hatte, waren sie aufgesprungen mit dem Gedanken, sie könne es sein und sie wolle ihnen sagen, wann sie zurückkehre oder wenigstens, wo sie sei und dass es ihr gut gehe.
Als dann vor einer Woche der Postbote ihnen lächelnd die Ansichtskarte überreicht hatte, hatten sie sofort die Polizei benachrichtigt. Noch einmal war ihnen eingeschärft worden, was sie längst begriffen hatten: dass sie niemandem etwas von der Rückkehr Stefanies erzählen durften. Dass niemand außer ihnen und der Polizei wissen durfte, wann sie kommen und wo sie sich dann aufhalten würde. Sie hätten ihrer Tochter zu Ehren gerne ein großes Fest gegeben, bei dem all ihre Freundeund Bekannten eingeladen worden wären. Stattdessen hatten sie sich damit begnügen müssen, im Korridor ein Schild mit der Aufschrift «Herzlich willkommen!» anzubringen – ein Schild, das man von draußen nicht sehen konnte, auch nicht, wenn die Haustür offen stand. Wenigstens hatten sie beim
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