Die Braut im Schnee
nach wem wir suchen. Sie heißt Mara. Als sie telefoniert hat, war ein Junge bei ihr. Wir haben sie abgepasst, als sie gerade das Haus verließ und zur Schule wollte. Sie weigert sich, den Mund aufzumachen.»
Marthaler schüttelte den Kopf, dann bat er seine beiden Kollegen, mit ins Vorzimmer zu kommen. Er sprach mit gesenkter Stimme: «Seid ihr völlig verrückt geworden? Ihr könnt nicht einfach eine Minderjährige von der Straße holen und vernehmen. Wenn ihre Eltern davon erfahren, kommen wir in Teufels Küche. Ist euch das eigentlich klar?»
Petersen nickte. «Ja», sagte er. «Das wissen wir auch. Trotzdem wollten wir das Risiko eingehen. Wir können nicht auf ihre Aussage warten, bis alle juristischen Hürden genommen sind. Und wir müssen auch Tobi finden, diesen Jungen, den der Mann vom Kiosk erwähnt hat. Sie alleine kann uns sagen, wo er sich aufhält.»
«Gut», sagte Marthaler. «Jetzt ist das Kind sowieso schon in den Brunnen gefallen. Ich versuche mit ihr zu reden. Aber allein!»
Er ging zurück in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.
«Hallo, Mara. Ich bin Robert Marthaler. Wir müssen dringend mit dir sprechen.»
Das Mädchen schien keine Notiz von ihm zu nehmen.
«Wir wissen, dass du etwas Schreckliches erlebt hast. Darüber müssen wir reden. Wir wollen, dass nicht noch mehr schreckliche Dinge geschehen, hörst du. Deshalb musst du uns sagen, was du weißt.»
Mara schaute weiter aus dem Fenster, ohne sich zu rühren.
«Mara, wir sind jetzt allein. Ich kann dir nicht versprechen, dass alles, was du sagst, unter uns bleibt. Aber ich kann dir versichern, dass dir nichts passieren wird. Du brauchst vor nichts und niemandem Angst zu haben. Du hast bei uns angerufen, und das war gut so.»
Langsam drehte sich Mara zu ihm um. Sie sah ihm direkt in die Augen. «Nein», erklärte sie. «Es war ein Fehler.»
«Warum glaubst du das? Warum meinst du, dass es ein Fehler war?»
«Weil keiner sicher ist, der ein Verbrechen gesehen hat. Das weiß jeder.»
«Gut», sagte Marthaler. «Aber man ist schon ein ganzes Stück sicherer, wenn man nicht der Einzige ist, der etwas weiß. Wenn du es mir erzählst, dann sind wir schon zu zweit.»
Mara nickte, aber sie schwieg auch weiterhin.
«Du hast von einem Mann gesprochen. Du hast gesagt, der Mann sei schon weg gewesen. Was für einen Mann hast du gemeint? Wir glauben, dass er die Frau umgebracht hat, die du gefunden hast.»
«Ich habe keinen Mann gesehen.»
«Mara, bitte, du darfst mich nicht belügen.»
«Ich habe keinen Mann gesehen.»
«Wer hat ihn dann gesehen? Du warst nicht alleine, nicht wahr. Warst du mit dem Jungen zusammen in den Schwanheimer Dünen? Mit dem Jungen, der bei dir war, als ihr uns angerufen habt? Er heißt Tobi, stimmt’s? Der Kioskbesitzer wusste seinen Namen.»
Mara zögerte lange mit ihrer Antwort. Marthaler merkte, dass sie mit sich haderte, dass er sie mit seinen Nachfragen in einen Gewissenskonflikt gebracht hatte.
«Ich darf nichts sagen. Er wollte noch nicht einmal, dass ich anrufe. Ich habe ihm versprochen, niemandem etwas zu verraten.»
«Wenn du diesen Jungen magst, wenn Tobi dein Freund ist, dann ist es besser, du brichst dein Versprechen. Es ist besser für ihn. Wenn es so ist, wie ich annehme, dass er diesen Mann gesehen hat, dann ist dein Freund in großer Gefahr.»
«Ist er nicht. Weil niemand weiß, wer er ist.»
«Aber versteh doch: Es wird niemand erfahren. Er muss uns helfen, den Mörder zu finden. Vielleicht ist Tobi der Einzige, der ihn gesehen hat. Und nur wenn er uns hilft, können wir ihm helfen.»
Marthaler merkte, wie sie ihre trotzige Haltung Stück für Stück aufgab. Sie war der Situation und seinen Argumenten nicht länger gewachsen. Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Sie war am Ende ihrer Kräfte, und sie hatte Angst. Und er fragte sich, wie lange er dieses Mädchen noch quälen durfte.
«Ich werde mit ihm reden», sagte sie.
«Dir ist hoffentlich klar, dass wir ihn auf jeden Fall finden müssen. Und dass wir ihn finden werden. Es wäre also besser, du würdest mir sagen, wie er mit Nachnamen heißt und wo er wohnt.»
«Nein!»
Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Wenn er sie zu sehrbedrängte, würde sie sich womöglich wieder ganz zurückziehen. Marthaler beschloss, sich auf das Angebot des Mädchens einzulassen.
«Gut», sagte er, «sprich mit ihm. So schnell wie möglich. Mach ihm klar, dass er für uns ein wichtiger Zeuge ist. Vielleicht der wichtigste, den wir
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